75
Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
te, ist in Realität eine Reflexion über die Komplizität
der Medien, das heißt der Journalisten, der Medien-
kanäle und der Betrachter. Kameraaufnahmen be-
gleiten die Kampfhandlungen, sind Gegenstand
eines Bilderkriegs als einer zweiten Ebene der Aus-
einandersetzungen und sind auch anschließend
immer weiter dabei, wenn humanitäre Hilfe eintrifft.
Martens kehrt schlicht die Positionen von Subjekt
und Objekt um, wenn er die Menschen vor Ort da-
nach fragt, was sie davon halten, dass bei allem, was
sie erleiden, immer auch noch eine Kamera auf sie
gerichtet wird.
200
Hito Steyerl: November
Ausgehend von einem feministischen Kungfu-Film,
den sie mit ihrer Freundin Andrea Wolf im Alter
von 17 Jahren auf Super 8 drehte, reflektiert Hito
Steyerl deren Geschichte. Wolf wurde verdächtigt,
die Rote Armee Fraktion bei der Zerstörung eines
Abschiebegefängnisses unterstützt zu haben und
schloss sich 1996 den bewaffneten Kämpfern der
PKK in Kurdistan an. Sie wurde bei einem Gefecht
unter türkischem Hubschrauberbeschuss verhaftet
und wahrscheinlich exekutiert. „November ist kein
Film über Andrea Wolf. November ist kein Film
über die Situation in Kurdistan. Er reflektiert statt-
dessen die Gesten der Befreiung nach dem Ende der
Geschichte, wie sie in der Popkultur und durch rei-
sende Bilder verbreitet werden. Der Film handelt
von der Epoche des November, in der die Revoluti-
on vorbei zu sein scheint, und nur ihre Gesten wei-
ter zirkulieren.‚
201
Joana Rajkowska
Auf einer Reise nach Israel mit Artur Zmijewski im
März 2001 kam Joana Rajkowska die Idee, auf der
Aleje Jerozolimskie, der Jerusalem-Allee, einer der
Hauptstraßen von Warschau, eine künstliche Palme
zu errichten. Bei dem Versuch, die Eindrücke der
Reise – in Jerusalem auf einer Parkbank zu sitzen
und die Detonationen von Kampfhandlungen in
Bethlehem zu hören – in einen Aufsatz zu fassen,
200
http://culiblog.org/2006/03/episode-1-emergency-food-
distribution-and-the-role-of-the-cameras.
201
http://www.sparwasserhq.de/Index/HTMLsep4/hitoG.htm.
dachte sie plötzlich an den Namen der sechs-
spurigen Straße, die an das 1772 in der polnischen
Hauptstadt gegründete und nur zwei Jahre beste-
hende „Nowa Jerozolima‚ erinnerte, ein Versuch,
durch Ansiedlung jüdischer Händler die Wirtschaft
in Gang zu bringen. Die Palme gab keinen spezifi-
schen Hinweis auf diese jüdische Vergangenheit,
sondern wirkte als offenes Symbol, das die Bewoh-
ner der Stadt nach ihrem Umgang mit dem Fremden
befragt. Nach teilweise heftigen ablehnenden Reak-
tionen gilt Rajkowskas Palme heute als eine Se-
henswürdigkeit. Für die Künstlerin markiert die
Installation den Beginn ihres Arbeitens im öffentli-
chen Raum. Sie ist 2008 erneut in Israel und dem
Westjordanland gewesen, war dort zu Gast im
Israeli
Center for Digital Art und hat mit Jugendlichen im
Freedom Theatre in Jenin Workshops veranstaltet. Sie
hat dazu einen sehr lesenswerten Blog verfasst, die
Zerstörung eines palästinensischen Hauses auf Vi-
deo festgehalten und in der Zeitschrift
Krytyka Poli-
tyczna einen Fotoessay veröffentlicht, der die anti-
semitische Propaganda der 1930er Jahre mit heuti-
gen islamfeindlichen Äußerungen vergleicht („You
Jew, You Arab!‚, 2010). Sie hat aber auch nicht auf-
gehört, sich mit der jüdischen Vergangenheit War-
schaus zu beschäftigen, wo sie an einem Ort, an
Stelle des ehemaligen Ghettos, 2006 eine kleine tem-
poräre Grünanlage mit Teich und eine Nebelma-
schine zur Sauerstoffanreicherung einrichtete, die
von den Bewohnern der umliegenden Quartiere
sehr gut aufgenommen wurde. Während eines Auf-
enthalts in Belgrad im Jahr 2004, als die Nachwir-
kungen der Jugoslawienkriege noch zu spüren wa-
ren, veranstaltete sie eine Rundfahrt um die „Große
Kriegsinsel‚, am Zufluss der Sava in die Donau, auf
einem noch fahrtauglichen Schiff aus einem
Schiffsfriedhof. In Budapest lud sie 2008 zwei Mit-
glieder von Organisationen der extremen Rechten
und weitere Passagiere aus acht anderen Ländern
sowie zwei Roma, einen
Juden und eine Lesbierin zu
einem
Rundflug
in
einer
alten
Lisunov-2-
Propellermaschine ein. In London konstruierte sie
2010 vor dem Eingang des
Showroom einen zweiräd-
rigen Pferdewagen, auf den zuerst ein kurdischer
Künstler in arabischer Schrift eine Inschrift anbrach-
te, woraufhin die vorwiegend aus dem Nahen und
Mittleren Osten stammenden Bewohner der
Edge-
ware Road eingeladen waren, ihre Kommentare ab-