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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
machen können. „Von dem tiefen ökonomischen
Einbruch, den wir jetzt erleben, sind vor allem die
ärmeren Teile der Gesellschaft betroffen‚, meint
Baladi, die in einer Fotoserie auch die Ereignisse auf
dem Tahrir-Platz im Januar und Februar 2011 do-
kumentiert hat. „Wenn ein neues System, eine neue
Art von Demokratie – und zwar nicht eine, die ein-
fach nur eins zu eins von den existierenden, fehler-
haften westlichen Demokratien übernommen wird -
tatsächlich umgesetzt werden könnte, dann würden
die “ashwa'iyat‘ hoffentlich auch von der Revolution
profitieren.‚
85
Die Künstlerin Huda Lutfi beschreibt in einem Blog-
Beitrag unter dem Titel „War and Peace on
Champollion
Street‚,
wie
Gruppen
junger
Freiwilliger ihre Nachbarschaft und die De-
monstranten vor Übergriffen schützen. Es sind diese
mutigen jungen Männer, die eine Eskalation
verhindern. Lutfi illustriert dies mit einem Foto,
neben drei Abbildungen eigener künstlerischer
Arbeiten.
86
Nabil Boutros: Ägypter
Eine kritische Situation entstand durch den Versuch,
den Unmut in der Bevölkerung gegen die Minder-
heit der koptischen Christen zu lenken. So gab es in
der Silvesternacht 2010 einen Anschlag auf eine
koptische Kirche in Alexandria. Zu dieser Zeit stellte
der Künstler Nabil Boutros gerade eine Fotoserie in
der Galerie Darb 1718 in Kairo aus. Es handelte sich
um mehrere Selbstporträts, alle als Büste in frontaler
Ansicht, aber in verschiedener Kleidung, Haar- und
Barttracht. „Mir fiel auf‚, so Boutros, „dass in den
letzten Jahren viele Leute in Ägypten ihr Aussehen
radikal und ziemlich schnell verändert und ihre
sozialen Beziehungen gewechselt haben, um einen
neuen finanziellen oder religiösen Status auszudrü-
cken.‚ Der Leiter der Galerie, Moataz Nasr, kam auf
85
http://universes-in-
universe.org/deu/nafas/articles/2011/lara_baladi;
http://universes-in-universe.org/deu/nafas/articles/2011/lara_
baladi/art_projects/borg_el_amal; http://www.afropolis.net;
http://universes-in-universe.org/deu/nafas/articles/2011/lara_
baladi/art_projects/tahrir_square.
86
http://opinionator.blogs.nytimes.com/2011/02/08/war-and-
peace-on-champollion-street/?partner=rss&emc=rss.
die Idee, diese Porträts auf ein Poster zu drucken
mit der Aufschrift „Alles Ägypter‚. Von zwanzig
privaten Kulturinstitutionen unterzeichnet, wurde
das Plakat kostenlos verteilt, in verschiedenen Städ-
ten aufgehängt und schließlich auch auf dem Tahrir-
Platz gezeigt und verteilt. Es wirkte als ein starker
Appell an die Einigkeit über alle kulturellen Diffe-
renzen hinweg.
87
Algerien
Als einer der gewaltsamsten Konflikte der jüngeren
Geschichte gilt der Algerienkrieg von 1954 bis 1962.
Terror, Folter und Mord auf beiden Seiten, ja sogar
Atomwaffentests in der Wüste, forderten bis zu
1,5 Millionen Menschenleben, überwiegend auf al-
gerischer Seite, die bis heute nicht vergessen sind. In
der französischen Gesellschaft, wo die Probleme der
Nordafrikaner in den Banlieus nach wie vor unge-
löst bleiben, sind die Auswirkungen dieses Krieges
noch immer spürbar. Ebenso wie in Algerien, wo
aufgrund einer Kombination von extremer Militari-
sierung und wirtschaftlichem Niedergang in den
1990er Jahren erneut ein grausamer Bürgerkrieg
ausbrach. In Frankreich hat sich der Algerienkon-
flikt insofern tief in die Geistesgeschichte des Landes
eingeschrieben, als Autoren wie Albert Camus, Jean-
Paul Sartre, Jean-Luc Godard oder Boris Vian das
französische Vorgehen kritisierten und ihre Werke
daraufhin von Zensur betroffen waren.
88
Ebenso
stark waren die Auswirkungen auf Seiten der ehe-
maligen Kolonialländer, also keinesfalls nur Algeri-
en, und die Diskussionen des Postkolonialismus.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang,
dass sich heutige ägyptische Künstler auf Theoreti-
87
http://www.nabil-boutros.com; http://universes-in-
universe.org/deu/nafas/articles/2011/nabil_boutros.
88
Boris Vians Chanson ‚Monsieur le Président‛, geschrieben 1954
angesichts des Indochina- und des Algerienkriegs, wurde
umgehend verboten und avancierte über Frankreich hinaus zur
Hymne der Kriegsdienstverweigerer; Godards zweiter Film, ‚Le
petit soldat‚ (1960), lässt auf neutralem Boden in Genf die
Agenten eines französischen Geheimdienstes und einer
arabischen Unabhängigkeitsbewegung sich mitleidslos
bekämpfen; der Film wurde erst 1963 erstmals gezeigt; es lässt
sich argumentieren, dass sich Godard hier erstmals von der
Ebene der Handlung scharf distanziert und stattdessen die
Konstruktion des Films hervorhebt, indem er die Haltungen
beider Konfliktparteien als vollkommen absurd erscheinen lässt.
35
Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
ker aus jener Zeit berufen: So tituliert Hassan Khan
eine seiner Arbeiten „Read Fanon you fucking bas-
tards‚ und wendet sich damit gegen exotistische
Erwartungshaltungen des „westlichen‚ Blicks auf
Nordafrika. Sherif El Azma nimmt in seiner
„Psycho-Geography of Loose Associations‚ auf den
algerischen Situationisten Abdelhatif Khatib Be-
zug.
89
In Algerien selbst bieten einmalige Großereignisse
wie das nach vierzig Jahren wiederbelebte Panafri-
kanische Festival – auch wenn dabei eher musikali-
sche Auftritte im Mittelpunkt stehen mögen – eine
seltene Gelegenheit für den internationalen Aus-
tausch zwischen Künstlern. Dies sagt Nadira
Laggoune, die im Rahmen des Festivals die Ausstel-
lung „Africaines‚ kuratiert hat und an „La moderni-
té dans l'art africain d'aujourd’hui‚ beteiligt war. Sie
stellt fest: „Ich tendiere dazu, solchen Künstlerinnen
und Künstlern den Vorzug zu geben, die sich für
das aktuelle Geschehen, die Zukunft ihrer Gesell-
schaft und die Lage der Menschen engagieren.‚
Jüngere Künstlerinnen und Künstler aus Algerien
rezipieren dabei insbesondere das Werk derjenigen,
die in der Diaspora leben und international agie-
ren.
90
http://www.cornerhouse.org/art/info.aspx?ID=428&
page=0
Zineb Sedira
Zineb Sedira, die in London studiert hat und lebt,
stammt aus einer Familie, die vor dem Algerienkrieg
nach Frankreich geflohen war. Sie hat dies in mehre-
ren Arbeiten thematisiert, etwa „Father, Mother and
I‚
91
oder „Histoires re-racontées: ma mère m'a dit...‚
(beide 2003): Videoarbeiten, in denen die Eltern vom
Algerienkrieg erzählen. In „Mother Tongue‚ (2002)
89
http://www.hassankhan.com; Cairoscape, S. 148; 47-49; vgl. den
sehr interessanten, 1958 veröffentlichten Text „Attempt at a
Psychogeographical Description of Les Halles‚,
http://www.cddc.vt.edu/sionline/si/leshalles.html.
90
Kunst und kuratoriale Praxis in Algerien. Interview von
Gerhard Haupt und Pat Binder mit Nadira Laggoune, Nafas
Kulturmagazin, Oktober 2009, http://universes-in-
universe.org/deu/nafas/articles/2009/algeria_art_curatorial_practi
ce.
91
Afrika Remix, S. 101.
führt sie die Konsequenzen der fortgesetzten Emig-
ration vor Augen: Die Muttersprache ihrer Eltern ist
arabisch, ihre eigene französisch, die ihrer Tochter
englisch – mit ihrer Großmutter kann diese sich
nicht unterhalten. Aufgrund des Bürgerkriegs in den
1990er Jahren war Sedira 15 Jahre lang nicht in Alge-
rien, bis sie 2003 erstmals dorthin zurückkehrte und
seither des Öfteren dort ausgestellt hat. An die Stelle
der unmittelbar autobiografischen Thematik ist da-
bei eine allgemeinere Reflexion über Ursachen und
Folgen der Migration getreten. Wenn sie in „Middle
Sea‚ eine Schiffsreise von Algier nach Marseille
filmt, handelt es sich nicht um eine Kreuzfahrt, son-
dern um eine Erfahrung von Trennung und Isolati-
on, eine Reise mit ungewissem Ausgang, wie sie
Emigranten auf dem Weg ins Exil erleben. Für
„Floating Coffins‚ (2009) ist sie nach Mauretanien
gereist, an einen Ort, von dem aus Migranten versu-
chen, zu Schiff nach Europa zu gelangen und oft-
mals scheitern. Die Videoinstallation zeigt einen
bizarren Schiffsfriedhof am Rande der Sahara als
Sinnbild dieses Scheiterns, der Leere und des Ver-
lusts.
92
http://www.zinebsedira.com
Kader Attia
Kader Attia, in einem Vorort von Paris geboren und
aufgewachsen, reflektiert in seinen Arbeiten in ver-
schiedenen Medien – Skulptur, Installation, Video,
Foto – Ausgrenzung und ökonomische Ungleich-
heit, auch über die Situation der Migranten in den
französischen Banlieus hinaus. Er lebte einige Zeit
im Kongo, wo er 1996 seine erste Ausstellung hatte.
Einige seiner Werke sind ausgesprochen drastisch,
wie etwa „Flying Rats‚ (Biennale von Lyon 2005),
bestehend aus lebensgroßen Kinderfiguren, welche
der Künstler aus Vogelfutter hergestellt und beklei-
det hatte und die im Verlauf der Ausstellung von
Tauben verzehrt wurden.
93
„Rochers Carrés‚ ist eine
92
Vgl. Joseph McGonagle, „Zineb Sedira: Floating Coffins, Saphir
& MiddleSea‚, in: Nafas Kunstmagazin, April 2009,
http://universes-in-universe.org/deu/nafas/articles/2009/
zineb_sedira; Zineb Sedira, „Artist’s Statement‚,
http://www.zinebsedira.com/sites/default/files/Z.Sedira%20State
ment.pdf.
93
http://dndf.over-blog.com/article-1301045.html.
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