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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
Fotoserie, die junge Algerier auf großen Beton-
Blöcken am Meeresufer zeigt. Ähnlich wie bei Sedira
bietet der Blick auf das Meer eine Fläche für Projek-
tionen, in diesem Fall der Sehnsucht nach einer ma-
teriell oder anderweitig besseren Perspektive durch
die Überfahrt ans andere Ufer des Mittelmeers.
94
„Kasbah‚ (
Biennale von Sydney 2010) besteht aus
Wellblechdächern von Slum-Behausungen, auf einer
großen Fläche ausgelegt. Der Ausstellungsbesucher
muss darüber hinwegsteigen und erfährt so körper-
lich die Prekarität der materiellen Gegebenheiten.
95
Nicole Guiraud
Die aus Algerien stammende, seit 1973 in Deutsch-
land lebende Künstlerin Nicole Guiraud konserviert
bunte Kleinplastiken und Erinnerungsstücke in
Einmachgläsern – nicht ohne Sinn für das Triviale
und eine ironische Umkehr vermeintlicher Identi-
tätsmerkmale, wenn sie etwa in der Serie „Der deut-
sche Wald‚ einen Mann in Lederhosen oder den
deutschen Wald mit Hirsch auftreten lässt. Die Ein-
machgläser sind auch ein treffendes Bild für die
Einsamkeit – so der Titel einer Serie – und Isolation
im Exil. „Archäologie des Erinnerns‚ heißt eine wei-
tere Serie, die aus alten Fotos und Karten von Alge-
rien, Zeichnungen und Fundstücken zusammenge-
setzt ist.
http://galerie-
herrmann.com/arts/guiraud/index.htm#Odyssee
Nord-Süd-Konflikt
Der Konflikt zwischen den reichen Ländern des
Nordens und den armen des Südens der Erdkugel
gehört zu den grundlegenden
Ursachen vieler, wenn
nicht der meisten Konflikte, die sich auf lokaler
Ebene in oder zwischen einzelnen Ländern abspie-
len. Ob es sich um Rohstoffvorkommen im Ost-
Kongo handelt oder den Algerienkrieg mit Spätfol-
gen wie Ghettoisierung nordafrikanischer Einwan-
derer in Frankreich oder Militarisierung und Bür-
gerkrieg in Algerien: In vielen Konflikten spielen
94
http://www.artinamericamagazine.com/reviews/kader-attia.
95
http://www.designboom.com/weblog/cat/10/view/10286/kader-
attia-kasbah-installation.html.
weltweite ökonomische Ungleichgewichte eine zent-
rale Rolle. Direkt sichtbar wird der Konflikt entlang
der Grenzen, die sich längs durch das Mittelmeer
und hinaus in den Atlantik ziehen, ebenso wie an
der Grenze zwischen Mexiko und den USA.
Um einen Konflikt im oben genannten Sinne handelt
es sich insofern, als diejenigen, die zuweilen ihr
Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa oder in die
USA zu gelangen, und die Länder, die sie notfalls
auch mit militärischer Gewalt daran zu hindern
suchen, eben nicht gemeinsam nach einer einver-
nehmlichen Lösung suchen. Seit Gründung der eu-
ropäischen Grenzsicherungsagentur Frontex 2004
hat sich deren Budget mehr als verzehnfacht.
96
Sie
sichert die Grenzen vorwiegend gegen unerwünsch-
te Einwanderer: Armutsflüchtlinge, die, wenn auch
nicht unmittelbar infolge militärischer Gewalt, dabei
doch bereits zu tausenden ums Leben kamen.
Für diese Migration gibt es rational nachvollziehba-
re Ursachen. In Ländern wie dem Senegal übersteigt
der Schuldendienst längst den Betrag der Entwick-
lungshilfe, sodass im Resultat finanzielle Ressourcen
in die reichen Länder abfließen. Was viele Familien
am Leben erhält, sind dagegen die Beträge, die
ihnen in Europa oder Amerika lebende Familien-
mitglieder überweisen. Sie setzen daher große Hoff-
nungen in diejenigen, die ausgewählt werden, um
die gefahrvolle Überfahrt zu wagen.
97
Eine gezielte
Politik, die nicht nur die Auswirkungen, sondern
die Ursachen des Armutsgefälles bekämpft, stellt
sicherlich eine enorme Herausforderung dar, wäre
aber letztlich der einzige Weg, das Problem mit
friedlichen Mitteln zu lösen.
98
Was Künstler in diesem Fall tun können, ist wohl
nur, auf das Problem in allen seinen Facetten auf-
96
http://www.frontex.europa.eu/budget_and_finance.
97
Daria Ulrike Huss,
Rahmenbedingungen für die Entscheidung
junger Senegalesen aus dem Großraum Dakar zur irregulären
Bootsmigration nach Europa (Diplomarbeit), Wien 2010.
98
In diesem Sinne bereits Queen Elizabeth in ihrer
Weihnachtsansprache 1983: „ < the greatest problem in the
world today remains the gap between
rich and poor countries
and we shall not begin to close this gap until we hear less about
nationalism and more about interdependence.‛,
http://www.sim64.co.uk/queens-speech-1983.html.
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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
merksam zu machen.
99
Es folgt eine Auflistung von
Arbeiten afrikanischer, europäischer und amerikani-
scher Künstlerinnen und Künstler, die sich mit die-
ser Thematik beschäftigt haben.
Babacar Niang: Émigration clandestine: le grand
débat
„Émigration clandestine: le grand débat‚, eine 2,25 x
2,80 Meter große Collage des Senegalesen Babacar
Niang, war eines von mehreren Werken auf der
Biennale von Dakar 2008, die sich mit dem Thema
der „émigration clandestine‚ beschäftigen.
100
Die
Wortwahl ist wichtig – im Deutschen gibt es, vom
Fremdwort „klandestin‚ abgesehen, keine direkte
Entsprechung. Klandestin bedeutet „heimlich‚ und
steht daher der Perspektive der Migranten näher als
der im Deutschen übliche legalistische Begriff „ille-
gale Immigration‚. Zeitungsausschnitte, Draht und
Vorhängeschlösser illustrierten das Thema, der
zweite Teil des Titels deutet an, dass Niang mit sei-
ner Arbeit eine Diskussion über das Thema ansto-
ßen oder eine Diskussion, die Bereits im Gang war,
thematisieren wollte.
Sokey Edorh: Les Naufragés de l’espoir
Eine weitere Arbeit war das 4 x 4 Meter große, aus
neun Leinwänden zusammengesetzte Tableau „Les
Naufragés de l’espoir‚ des togolesischen Künstlers
Sokey Edorh.
101
In Mischtechnik aus Serigraphie und
Malerei schildert der Künstler die Etappen der Mig-
ration vom Traum des Aufbruchs über die Gefahren
der Seefahrt bis zur Ankunft im ersehnten Land.
http://www.sokeyedorh.com
Judith Quax: Immigranten
Die niederländische Fotografin Judith Quax hat die
Räume junger Männer im Senegal fotografiert, die
sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. Sie
hat auch mit ihren Angehörigen gesprochen. Man-
che sind in Europa angekommen, ohne dort wie
99
Vgl. „Abschreckung hilft nicht‚, Interview mit dem
Migrationsforscher Thomas Faist,
http://www.zeit.de/online/2009/14/fluechtlinge-afrika.
100
Dak’art 2008. Afrique Miroir?, Dakar 2008, S. 138 f.
101
Ebd., S. 92 f.
erhofft Arbeit zu finden. Andere sind ertrunken
oder vermisst. In den Fotografien wird die Abwe-
senheit spürbar.
102
http://www.judithquax.com/
Amadou Kane Sy: Lu et approuvé
Amadou Kane Sy lässt in seinem fünfminütigen
Video „Lu et approuvé‚ einen Mund einen Brief der
malischen Globalisierungskritikerin und ehemaligen
Ministerin Aminata Traoré an den französischen
Staatspräsidenten vortragen, in dem diese den Neo-
liberalismus für das Elend der afrikanischen Gesell-
schaften und die klandestine Emigration verant-
wortlich macht.
103
Guy Bertrand Wouete Lotchouang: La liste est
longue
Lang ist dem Kameruner Künstler Guy Wouete zu-
folge die Liste der Werte, die durch die neoliberale
Politik der führenden Wirtschaftsnationen zu ver-
schwinden drohen: Solidarität, Frieden, Sicherheit,
Entwaffnung, Respekt vor der Natur und Freiheit
sieht der Künstler bedroht, dessen kurzes Video „La
liste est longue‚ mit den Worten beginnt: „Die G8
verkörpern alles, was wir als Anarchisten ablehnen‚
und endet: „Yes, another world is possible.‚
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Mansour Ciss: Les 100 papiers
In seiner Videoarbeit „Les 100 papiers‚ belehrt der
in Berlin lebende Künstler Mansour Ciss junge Se-
negalesen über die Schwierigkeiten der „Sans pa-
piers‚, der illegalen Einwanderer in Europa, und
über die Ursachen der Misere des afrikanischen
Kontinents im Kolonialismus. „Ihr, junge Afrikaner,
müsst die Urheber der Entwicklung sein‚, heißt es
im Abspann, der an die Tausenden erinnert, die auf
dem Weg nach Europa in Lampedusa und Melilla
hängen bleiben. Komplementär dazu zeigt Mansour
Ciss in einer Fotoserie extreme Armut: Bettler am
Straßenrand, allerdings nicht in Afrika, sondern in
Berlin. „Diese Fotos haben in Dakar einen Schock
102
Vgl.
Spot on Dak’art. Die 8. Biennale zeitgenössischer afrikanischer
Kunst, ifa-Galerie Berlin, Stuttgart 2009, S. 72-75.
103
Dak’art 2008, Afrique Miroir?, S. 158 f.
104
Ebd., S. 168 f.