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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
Adam Broomberg, Oliver Chanarin: Chicago (2008)
/ Red House (2006) / Afterlife (2009)
‚Chicago‛ nennt sich eine Kulissenstadt in der
Negev-Wüste, in der das israelische Militär, wie
Adam Broomberg und Oliver Chanarin in ihrem
gleichnamigen Foto-Projekt ausführen, jede einzelne
militärische Aktion – während der ersten und zwei-
ten Intifada, des Rückzugs aus dem Gazastreifen
oder dem Gazakrieg – vorher geübt haben. Das be-
rüchtigte Vorgehen der Armee, indem sie einzelne
Wände privater Wohnhäuser zerstört und sich so
von Wohnzimmer zu Wohnzimmer durch das dich-
te Geflecht palästinensischer Städte und Flüchtlings-
lager vorgearbeitet haben, wurde hier erprobt,
nachdem am direkten Panzerbeschuss des Flücht-
lingslagers von Jenin Kritik laut wurde. Aber auch
die amerikanische Armee nahm sich ein Beispiel an
den israelischen Kampftaktiken, als sie den Angriff
auf irakische Städte und die Exekution Saddam
Husseins plante. „Chicago‚ heißt dieser Ort, weil in
der gleichnamigen amerikanischen Großstadt wäh-
rend der Prohibitionszeit so viel geschossen wurde.
In ihrer Fotoserie gelingt es Broomberg und Chana-
rin, wie Eyal Weizman in einem lesenswerten Bei-
trag anmerkt, an einem bisher kaum bekannten Ort
zugleich die israelische Vision einer unbevölkerten
arabischen Stadt (nach dem Motto „ein Land ohne
Volk‚) vor allem aber die Strategien moderner
Kriegführung sichtbar und durchschaubar zu ma-
chen.
Broomberg und Chanarin bilden in diesem wie auch
in anderen Fällen nicht einfach die sichtbare Ober-
fläche der Konflikte ab, sondern suchen auf geziel-
ten Umwegen nach geeigneten Bildern, um die Hin-
tergründe verständlich zu machen. Ausgehend von
einer Kritik des Bildes gelingt es ihnen gleichwohl,
umso prägnantere Bilder zu finden, die insofern
noch wirken, weil sie nicht abgenutzt sind. Dies gilt
auch für zwei Arbeiten, die sich mit dem irakischen
Kurdistan beschäftigen. „Red House‚ besteht aus
Fotografien von Kerben und Zeichnungen an den
Wänden eines Hauptquartiers der Ba’ath-Partei in
Sulaymaniyah, eines Hauses also, in dem gefoltert
wurde. „Afterlife‚ dekonstruiert ein berühmtes
Pressebild von elf Kurden, die am 6. August 1979
mit verbundenen Augen vor ihrer Erschießung ste-
hen. Es war als anonymes Bild weitverbreitet.
Broomberg und Chanarin machten den Fotografen
ausfindig und setzten das Bild auf der Basis seiner
Erläuterungen in verschiedenen Variationen neu
zusammen.
http://www.choppedliver.info
Robby Herbst: Household Revisited – Peaceniks
and Treehuggers (2008)
Anlässlich der Ausstellung „Allan Kaprow – Art as
Life‚ des Museum of Contemporary Art (MOCA) in
Los Angeles 2008 entwickelte Robby Herbst eine
neue Version des Happenings „Household‚ von
Allan Kaprow aus dem Jahr 1964. Kaprow hatte den
Kampf der Geschlechter auf einer Müllhalde als
sinnbildliche Szenerie der Konsum- und Wegwerf-
gesellschaft inszeniert. Statt wie bei solchen Gele-
genheiten üblich Kaprows „Werk‚ möglichst exakt
zu reproduzieren, fragte Herbst nach der heutigen
Aktualität, die er im Klimawandel und im Irakkrieg
gegeben fand. Er spielt daher selbst die Figur des
Krieges, gegen den seine Mitstreiter, als „Peaceniks
and Trehuggers‚, in verschiedenen, vorher nach
historischen Vorbildern ausgesuchten Verkleidun-
gen Formen zivilen Widerstands entwickeln. Was
im Video teilweise nach einer Neubelebung des
Geistes der Hippies aussieht, hat insofern einen
unmittelbaren Realitätsbezug, als die Teilnehmer
damit auch Aktionen eintrainierten, wie sie in realen
Protesten zum Einsatz kamen.
199
http://www.moca.org/kaprow/index.php/category/hou
sehold/
Renzo Martens: Episode 1 (2002)
In seinem 44-minütigen Film ‚Episode 1‛ macht
Renzo Martens etwas scheinbar Absurdes: Er fährt
mitten ins umkämpfte Tschetschenien und filmt all
die üblichen Protagonisten – uniformierte Soldaten,
Flüchtlinge, Opfer < Nur fragt er sie nicht nach den
Ereignissen, was sie erlebt haben, wie es ihnen
erging, was sie empfinden, sondern er fragt sie nach
sich: was sie von ihm, dem Künstler Renzo Martens
halten. Was auf den ersten Blick nach einem über-
steigerten Narzissmus des Künstlers aussehen könn-
199
Friedensschauplätze, S. 90-91 und Website.
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Kunst im Konflikt: Strategien zeitgenössischer Kunst
te, ist in Realität eine Reflexion über die Komplizität
der Medien, das heißt der Journalisten, der Medien-
kanäle und der Betrachter. Kameraaufnahmen be-
gleiten die Kampfhandlungen, sind Gegenstand
eines Bilderkriegs als einer zweiten Ebene der Aus-
einandersetzungen und sind auch anschließend
immer weiter dabei, wenn humanitäre Hilfe eintrifft.
Martens kehrt schlicht die Positionen von Subjekt
und Objekt um, wenn er die Menschen vor Ort da-
nach fragt, was sie davon halten, dass bei allem, was
sie erleiden, immer auch noch eine Kamera auf sie
gerichtet wird.
200
Hito Steyerl: November
Ausgehend von einem feministischen Kungfu-Film,
den sie mit ihrer Freundin Andrea Wolf im Alter
von 17 Jahren auf Super 8 drehte, reflektiert Hito
Steyerl deren Geschichte. Wolf wurde verdächtigt,
die Rote Armee Fraktion bei der Zerstörung eines
Abschiebegefängnisses unterstützt zu haben und
schloss sich 1996 den bewaffneten Kämpfern der
PKK in Kurdistan an. Sie wurde bei einem Gefecht
unter türkischem Hubschrauberbeschuss verhaftet
und wahrscheinlich exekutiert. „November ist kein
Film über Andrea Wolf. November ist kein Film
über die Situation in Kurdistan. Er reflektiert statt-
dessen die Gesten der Befreiung nach dem Ende der
Geschichte, wie sie in der Popkultur und durch rei-
sende Bilder verbreitet werden. Der Film handelt
von der Epoche des November, in der die Revoluti-
on vorbei zu sein scheint, und nur ihre Gesten wei-
ter zirkulieren.‚
201
Joana Rajkowska
Auf einer Reise nach Israel mit Artur Zmijewski im
März 2001 kam Joana Rajkowska die Idee, auf der
Aleje Jerozolimskie, der Jerusalem-Allee, einer der
Hauptstraßen von Warschau, eine künstliche Palme
zu errichten. Bei dem Versuch, die Eindrücke der
Reise – in Jerusalem auf einer Parkbank zu sitzen
und die Detonationen von Kampfhandlungen in
Bethlehem zu hören – in einen Aufsatz zu fassen,
200
http://culiblog.org/2006/03/episode-1-emergency-food-
distribution-and-the-role-of-the-cameras.
201
http://www.sparwasserhq.de/Index/HTMLsep4/hitoG.htm.
dachte sie plötzlich an den Namen der sechs-
spurigen Straße, die an das 1772 in der polnischen
Hauptstadt gegründete und nur zwei Jahre beste-
hende „Nowa Jerozolima‚ erinnerte, ein Versuch,
durch Ansiedlung jüdischer Händler die Wirtschaft
in Gang zu bringen. Die Palme gab keinen spezifi-
schen Hinweis auf diese jüdische Vergangenheit,
sondern wirkte als offenes Symbol, das die Bewoh-
ner der Stadt nach ihrem Umgang mit dem Fremden
befragt. Nach teilweise heftigen ablehnenden Reak-
tionen gilt Rajkowskas Palme heute als eine Se-
henswürdigkeit. Für die Künstlerin markiert die
Installation den Beginn ihres Arbeitens im öffentli-
chen Raum. Sie ist 2008 erneut in Israel und dem
Westjordanland gewesen, war dort zu Gast im Israeli
Center for Digital Art und hat mit Jugendlichen im
Freedom Theatre in Jenin Workshops veranstaltet. Sie
hat dazu einen sehr lesenswerten Blog verfasst, die
Zerstörung eines palästinensischen Hauses auf Vi-
deo festgehalten und in der Zeitschrift Krytyka Poli-
tyczna einen Fotoessay veröffentlicht, der die anti-
semitische Propaganda der 1930er Jahre mit heuti-
gen islamfeindlichen Äußerungen vergleicht („You
Jew, You Arab!‚, 2010). Sie hat aber auch nicht auf-
gehört, sich mit der jüdischen Vergangenheit War-
schaus zu beschäftigen, wo sie an einem Ort, an
Stelle des ehemaligen Ghettos, 2006 eine kleine tem-
poräre Grünanlage mit Teich und eine Nebelma-
schine zur Sauerstoffanreicherung einrichtete, die
von den Bewohnern der umliegenden Quartiere
sehr gut aufgenommen wurde. Während eines Auf-
enthalts in Belgrad im Jahr 2004, als die Nachwir-
kungen der Jugoslawienkriege noch zu spüren wa-
ren, veranstaltete sie eine Rundfahrt um die „Große
Kriegsinsel‚, am Zufluss der Sava in die Donau, auf
einem noch fahrtauglichen Schiff aus einem
Schiffsfriedhof. In Budapest lud sie 2008 zwei Mit-
glieder von Organisationen der extremen Rechten
und weitere Passagiere aus acht anderen Ländern
sowie zwei Roma, einen Juden und eine Lesbierin zu
einem
Rundflug
in
einer
alten
Lisunov-2-
Propellermaschine ein. In London konstruierte sie
2010 vor dem Eingang des Showroom einen zweiräd-
rigen Pferdewagen, auf den zuerst ein kurdischer
Künstler in arabischer Schrift eine Inschrift anbrach-
te, woraufhin die vorwiegend aus dem Nahen und
Mittleren Osten stammenden Bewohner der Edge-
ware Road eingeladen waren, ihre Kommentare ab-
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