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Abb. 1:
„Deütschland, Niederlande, Belgien und Schweiz: National-,
Sprach-, Dialect-Verschiedenheit“ aus: Heinrich Berghaus‘
Physikalischer Atlas, Bd. 2, 8. Abt., Karte 9, 1848.
Karte in zwei Schritten ausschnittsweise vergrößern. Die erste Vergrößerung (Abb.
2) zeigt den oberen linken Teil der Karte mit dem Kartentitel und dem Gebiet der
Niederlande und Flanderns mit den angrenzenden deutschen Gebieten. Der
Kartenausschnitt enthält drei mit Ziffern versehene Gebiete, die Berghaus in der
Legende am rechten Kartenrand wie folgt benennt: 22. Westfälischer Dialekt, 23.
Niederrheinische Mundart, 24. Vlämisch-holländische Schriftsprache.
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Zum besseren
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Darüber hinaus wird im Norden zu beiden Seiten der Staatsgrenze ein Gebiet der friesischen Sprache
abgegrenzt, zu dem die Regionen um Leeuwarden und Groningen auf niederländischer Seite sowie
Nordfriesland und Ostfriesland einschließlich des Saterlands auf deutscher Seite gehören. Berghaus ist sich
dabei der Problematik der im 19. Jahrhundert schon weitestgehend vollzogenen sprachlichen ‚Entfriesung‘
Groningens und Ostfrieslands offensichtlich bewusst, wie ein Textzusatz unterhalb des Ortspunktes
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Verständnis der aus heutiger Sicht in manchen
Punkten ungewöhnlichen
Benennungen und Begrenzungen möchte ich hier nur auf zwei Punkte näher
eingehen: Die Benennung der Mundarten des Köln-Bonner Raumes als
niederrheinisch ist für das 19. Jahrhundert nicht unüblich, sie findet sich auch in
vielen anderen zeitgenössischen Darstellungen. Die sogenannte Benrather Linie, die
in den heute üblichen Dialektgliederungen die niederfränkischen Dialekte am
Niederrhein von den ripuarischen (=mittelfränkischen) des Kölner Raumes trennt, ist
erst eine ‚Entdeckung‘ des späten 19. Jahrhundert, die sich in der Literatur m. W.
nicht vor den 1870er Jahren findet. Anders als die heutige Sprachwissenschaft
subsumiert Berghaus das Niederländische – die vlämisch-holländische Schriftsprache
in seiner Diktion – auf seiner Karte unter die Dialekte des Deutschen, indem er es zu
den niederdeutschen Mundarten rechnet. Auch dies spiegelt die Sichtweise des 19.
Jahrhunderts wieder und steht in der lange nachwirkenden Tradition der frühen
Germanistik Grimm‘scher Prägung, die noch bis heute für anhaltende
Missverständnisse über das Verwandtschaftsverhältnis der beiden germanischen
Schwestersprachen Deutsch und Niederländisch sorgt.
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Kleve und Geldern als Teil des niederländischen Sprachgebiets
Die zweite Ausschnittvergrößerung (Abb. 3) zeigt das deutsch-niederländische
Grenzgebiet von einer Linie Roermond/Düsseldorf im Süden bis in den Raum
Overijssel/Bentheim im Norden. Hier werden zwei Gebiete erkennbar, in denen
Berghaus den Geltungsbereich der niederländischen Sprache auf deutsche Territo-
rien ausweitet: die Niedergrafschaft Bentheim mit den Städten Neuenhaus und
Nordhorn (auf der Karte in niederländischer Namensform als Nyenhuyzen und
Noordhoorn wiedergegeben) und – der Nordwesten des klevisch-geldrischen
Niederrheins mit den Städten Geldern, Kleve, Emmerich und Rees. Wie kommt
Berghaus zu dieser Grenzziehung, die den amtlichen Geltungsbereich der deutschen
Sprache mindert und den der niederländischen Sprache um zwei Gebiete erweitert, in
denen Niederländisch de facto nicht als Amtssprache fungiert? Im sehr knapp
gehaltenen Kommentar zur ersten Auflage des Atlasses findet sich noch keinerlei
Begründung für diese eigenartige Entscheidung, erst in der zweiten Auflage erhält
Leeuwarden zeigt. Dort heißt es erläuternd: „Sitz d. noch echten Friesen“.
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Vgl. Goossens, Jan: Was ist Deutsch – und wie verhält es sich zum Niederländischen? Bonn 1971 (5.
Aufl. 1985). Wieder abgedruckt in Goossens, Jan: Ausgewählte Schriften zur niederländischen und
deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Eickmans, Loek Geeraedts und Robert
Peters (Niederlande-Studien 22). Münster u. a. 2000, S. 331-358.
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Abb. 2: Niederlande, Flandern und angrenzende deutsche
Gebiete.
die Karte als Ganzes eine umfangreichere Kommentierung, die zunächst auf die
Schwierigkeiten eingeht, die sich angesichts der damals noch kaum erforschten
dialekt-geographischen Gliederung des Deutschen ergaben: „Was aber die Abgrän-
zung der deütschen Volksmundarten betrifft, so ist dies ein Feld, auf dem
Sprachkenner noch grosse Studien anzustellen haben, bevor man im Stande sein
wird, die Zungen aller deütschen Volksstämme, der reinen, unvermischt gebliebenen,
und der mit andern Völkern und Sprachen gemischten, linguistisch und raümlich zu
sondern und zu scheiden und nach ihrer geographischen Verbreitung auf
Specialkarten zur Anschauung zu bringen. Einstweilen habe ich, auf der Karte Nr. 9,
fünf und zwanzig Hauptmundarten angenommen, mit Einschluss der vlämisch-
holländischen Schriftsprache.“
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An dieser Stelle fügt Berghaus eine Fußnote ein, die eine ausführliche Erklärung
speziell zum Problem der beiden angesprochenen Gebiete an der deutsch-
niederländischen Sprachgrenze liefert: „In Bezug auf die Dialekt-Gränzen will ich
nur eines Falles Erwähnung thun. Ich habe nämlich die untere Grafschaft Bentheim
zum Gebiet der holländischen
Sprache (Obereyssler Mundart)
gezogen, und dem gemäss auch
die Namen der darin liegenden
zwei Städte in holländischer
Schreibart auf der Karte
eingetragen (Noordhoorn und
Nyenhuyzen). Dieses Herüber-
ziehen der holländischen Spra-
che auf deütsches Gebiet (im
staatsrechtlichen Sinne) beru-
het auf eigene Erfahrungen, in
den Jahren 1811 und 1812, als
ich, in meiner Eigenschaft als
Géographe du Corps impérial
des ponts et chaussées im
damaligen Département de la
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Die letzte Lieferung der zweiten Auflage des „Physikalischen Atlasses“ erschien auch unter dem
separaten Titel „Allgemeiner ethnographischer Atlas oder Atlas der Völkerkunde“. Gotha 1852, das
vorstehende Zitat auf S. 14.