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Abb. 3: Kartenausschnitt: Niedergrafschaft Bentheim
und Niederrhein.
Lippe de l‘Empirie français, während der Sommer- und Herbstmonate mit
Ausarbeitung von Kanal- und Strassenbau-Projecten in der Grafschaft Bentheim be-
schäftigt war. Zu jener Zeit wurde in den Kirchen nur in holländischer Sprache
gepredigt; und bloss die gebildeten Leüte in den Städten Nordhorn und Neüenhaus
verstanden und sprachen Hochdeütsch, aber als erlernte Sprache. Ganz eben so
verhält es sich mit den untern Gegenden des Herzogthums Kleve und mit dem
preüssischen Herzogthum Geldern, wo
das Holländische die Volkssprache ist,
oder mindestens vor einem halben
Jahrhundert war, denn ich selbst habe
als ein „kleefsch wigt“, obwol meine
Aeltem „uit 't Moffenland“ waren, in
der „nederduytsche taal“ sprechen
gelernt, und diesem den Hoch-
deütschen so churwälsch vorkom-
menden und doch so überaus reichen
Dialekt, Jahre lang ausschliesslich
„gepraatet“. Es ist die Geldern’sche
Mundart, die im Kleve'schen Lande
gesprochen wird, und die sich auch
sehr wahrscheinlich bis an die
Wallonen-Gränze erstreckt.“
8
Diese Einschätzung des Geldrisch-
klevischen als Teil des Nieder-
ländischen hatte Berghaus im Übrigen
schon in früheren Publikationen wiederholt geäußert. So etwa in seiner „Statistik des
Preüßischen Staats: Versuch einer Darstellung seiner Grundmacht und Kultur, seiner
Verfassung, Regierung und Verwaltung im Lichte der Gegenwart“ (Berlin: Reimer
1845), wo es von der in den Kreisen Kleve und Geldern geltenden Sprache heißt (S.
169): „Sie ist eigentlich ein Unter-Dialekt der vlämischen oder holländischen
Mundart, die bekanntlich zur Schrift- und Büchersprache ausgebildet worden ist, und
8
Ebd., S. 18. Zur Geschichte des Niederländischen in der Grafschaft Bentheim, auf die ich im Folgenden
nicht weiter eingehen kann, vgl. Baumann, Johannes: Der Übergang von der niederländischen zur
hochdeutschen Schriftsprache in der Grafschaft Bentheim seit 1752. In: Kremer, Ludger/Sodmann,
Timothy (Hg.): „...die ihnen so liebe holländische Sprache“. Zur Geschichte des Niederländischen im
Westmünsterland und in der Grafschaft Bentheim, Vreden 1998, S. 53-126.
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Abb. 4: Heinrich Kiepert: Völker- und Sprachenkarte von
Deutschland und den Nachbarländern im Jahre 1867
(Ausschnitt)
als solche von den Holländern schlechtweg de duytsche taal genannt wird […]. Jene
duytsche taal ist selbst in den Städten, namentlich in Kleve und Emmerich, die der
niederländischen Gränze so naheliegen, die gewöhnliche Umgangssprache der
gebildeten Stände; das Hochdeutsche wird selten gehört.“
Man wird begründete Zweifel anmelden dürfen, ob der Niederrhein um 1850
wirklich noch einen so starken und homogenen niederländischen Eindruck machte,
wie es Berghaus in den zitierten Passagen suggeriert. In der Anmerkung zur
Atlaskarte von 1852 macht er immerhin eine wichtige Einschränkung, indem er der
im grammatischen Präsens
formulierten Aussage „wo das
Holländische die Volkssprache
ist“ den Nachsatz folgen lässt:
„oder mindestens vor einem
halben Jahrhundert war“. Genau
ein halbes Jahrhundert zuvor war
Heinrich Berghaus in Kleve
geboren und wir haben schon aus
dem oben zitierten Atlas-
Kommentar erfahren, dass er das
Niederländische als seine
Muttersprache betrachtete, die er
in den Jahren seiner Klever
Kindheit „ausschließlich“ ge-
sprochen habe. In seinen Erin-
nerungen ist dann allerdings
etwas differenzierten die Rede davon, dass man sich in der Familie Berghaus
durchaus auch der deutschen und französischen Sprache bedienen konnte, „die
niederländische jedoch als allgemeine Landessprache im engern Kreise des Hauses
die vorwaltende“ war.
9
9
Berghaus, Heinrich: Wallfahrt durchs Leben. Vom Baseler Frieden bis zur Gegenwart. 9 Bde., Leipzig
1862. Bd. 1, S. 84. Berghaus war ein genauer Beobachter der sprachlichen Verhältnisse in seinem
Lebensumfeld; vgl. hierzu Nagel, Norbert: Zur Sprachsituation in Münster zwischen 1803 und 1811. Nach
den Memoiren von Heinrich Karl Wilhelm Berghaus, in: Augustin Wibbelt-Gesellschaft Jahrbuch 11
(1995), S. 37-56. In späteren Jahren betätigte sich Berghaus auch als Lexikograph des Niederdeutschen in
seinem unvollendet gebliebenen „Der Sprachschatz der Sassen. Ein Wörterbuch der Plattdeütschen
Sprache in den hauptsächlichen ihrer Mundarten“. Brandenburg/Berlin 1880-1883. Von dem auf drei
Bände angelegten Werk erschienen Bd. 1: A-H; Bd. 2: I-N und die erste Lieferung von Bd. 3 (O-Paddeln).
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Der hier noch einmal von Berghaus formulierte Eindruck aus seiner Kindheit, in der
er das Niederländische als „allgemeine Landessprache“ im Klevischen wahrge-
nommen hatte, scheint sich bei ihm so fest eingeprägt zu haben, dass er auch mehr
als drei Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress auf seiner Sprachkarte von 1848 noch
an der Zuordnung des Kleverlands zum Geltungsbereich der niederländischen
Sprache festhält. De facto dürfte die staatlicher- und kirchlicherseits verordnete
‚Eindeutschung‘ des klevisch-geldrischen Niederrheins um 1850 aber schon so
weitgehende Fortschritte gemacht haben, dass der Gebrauch des Niederländischen als
Kultur- und Schriftsprache nur noch in Resten in der katholischen Verkündigung und
in der privaten Schriftlichkeit der Niederrheiner anzutreffen gewesen sein wird.
10
Man darf also bezweifeln, dass das „Herüberziehen der holländischen Sprache auf
deütsches Gebiet“, wie Berghaus sein Vorgehen im Kartenkommentar selber nennt,
noch die tatsächlichen sprachlichen Verhältnisse um die Mitte des 19. Jahrhunderts
wiederspiegelt. Ungeachtet dessen hat Berghaus mit dieser Sichtweise bedeutsame
Nachfolger gefunden. So wird es sicher nicht zuletzt seinem Einfluss zuzuschreiben
sein, wenn eine der meist rezipierten Sprachkarten vor Wenker
11
den Geltungs-
bereich des Niederländischen auch auf die Niedergrafschaft Bentheim und den Raum
Kleve/Geldern, also auf deutsches Territorium ausdehnt. Gemeint ist die „Völker-
und Sprachenkarte von Deutschland und den Nachbarländern im Jahre 1867“ von
Heinrich Kiepert (Berlin: Reimer 1867,
2
1870), welche die deutsch-niederländische
Sprachgrenze noch in derselben Weise zieht wie zwei Jahrzehnte zuvor Heinrich
Berghaus (Vgl. Abb.4).
10
Zur niederrheinischen Sprachgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert liegen umfangreiche Forschungs-
arbeiten vor. Hier sei auf einige wichtige verwiesen: Georg Cornelissen: Kleine niederrheinische Sprach-
geschichte (1300-1900). Geldern/Venray 2003; Ders.: Das Niederländische im preußischen Gelderland
und seine Ablösung durch das Deutsche. Bonn 1986; Heinz Eickmans: Aspekte einer niederrheinischen
Sprachgeschichte. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der
deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., Berlin/New York 2003, 3. Teilband, S. 2629-2639;
Ders.: Zur regionalen Sprachgeschichte des nördlichen Rheinlands. In: ZdPh Sonderheft 117, 1998, S. 37-
51; Josef Karl Merges: Der untere Niederrhein. Studien zu seiner sprachlichen Entwicklung. Bonn 1977;
Arend Mihm: Frühneuzeitliche Sprachmodernisierung und Sprachspaltung. Zu Status und Entstehung der
niederländisch-hochdeutschen Zweisprachigkeit (am Beispiel Emmerichs) ZDL 74 (2007), S. 241-265;
Tim Stichelmair: Stadtbürgertum und frühneuzeitliche Sprachstandardisierung. Eine vergleichende
Untersuchung zur Sprachentwicklung der Städte Emmerich, Geldern, Nimwegen und Wesel vom 16. bis
zum 18. Jahrhundert. Bein/New York 2008.
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Georg Wenker (1852-1911) verschickte ab 1876 zunächst im Rheinland, ab 1887 im gesamten
Deutschen Reich Dialektfragebögen, auf deren Basis erstmals zuverlässige Detailkarten zur räumlichen
Gliederung der deutschen Dialekte möglich wurden.
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