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des Landesstaatsarchivs lassen sich diese Aussagen des Historikers jedoch nur
teilweise belegen. Im Schnitt waren die Angehörigen der IBV tatsächlich 50 Jahre
und älter (Geburtsjahre um 1883-93), zahlreiche Mitglieder waren außerdem Frauen
und bereits verwitwet (z. B. Henriette Kretzer, Martha Schmidt, Maria Schröter,
Wilhel-mine Pape und Emma Krause).
15
Der Großteil der Akten enthält jedoch
Verhör- und Ermittlungsprotokolle, die von männlichen
Bibelforschern berichten, die
Verdäch-tigen übten Berufe aus, die von mittlerem gesellschaftlichen Status waren,
z. B. Polizist
16
oder Weichensteller bei der Firma Krupp.
17
Zipfel berichtet, dass „[die] Mitglieder dieser kleinen Religionsgemeinschaft […] zu
97%, d. h. nahezu ausnahmslos, zu Opfern nationalsozialistischer Verfolgungsmaß-
nahmen [wurden].“
18
Er vermerkt, dass die Anzahl der Zeugen Jehovas zwischen
1933 und 1945 mit 6.034 dotiert und 5.911 von ihnen verhaftet und davon über 2.000
Opfer eines gewaltsamen Todes wurden. Als Basis der Legitimierung der polizei-
lichen Verfolgungsmaßnahmen diente der nationalsozialistischen Führung die Ver-
ordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar
1933, welche die persönliche Freiheit und freie Meinungsäußerung einschränkte und
des Weiteren die Pressefreiheit sowie das Vereins- und Versammlungsrecht außer
Kraft setzte. Ferner gründeten die Maßnahmen auf dem Verbot des Preußischen
Innenministers vom 24. Juni 1933, der in einem offiziellen Schreiben mitteilte, dass:
„Auf Grund des §1 des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.
Februar 1933-RGbl. I S 83 in Verbindung mit § 14 PVG […] die Internationale
Bibelforscher Vereinigung einschließlich ihrer sämtlichen Organisationen (Wach-
turm-Bibel – und Traktat – Gesellschaft Lünen/Magdeburg der Neu-Apostolischen
Sekte) im Gebiet des Freistaates Preussen aufgelöst und verboten [wird].“
19
Kleine Religionsgemeinschaften – eine Bedrohung für das NS-Regime
Wenn die kleinen Religionsgemeinschaften vom NS-Regime als störend oder gefähr-
lich eingestuft wurden, gründete dies vor allem auf den verschiedenen Auslegungen
15
Vgl. Sondergerichtsanklage (07.01.1937), in: Bestand BR 2278 Nr. 49, Landesstaatsarchiv NRW,
Abteilung Rheinland.
16
Einlieferungs-Anzeige (26.06.1936), in: Bestand BR 2278 Nr. 27, Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung
Rheinland.
17
Ermittlungsprotokoll (15.02.1938), in: Bestand BR 2396 Nr. 933, Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung
Rheinland.
18
Zipfel, Friedrich: S. 176.
19
Moß, Christoph: S. 13.
62
Abb. 1: Watch Tower. Bible and Tract Society, Brief (25.06.1933) an den Reichskanzler, in:
Bestand BR 0007 Nr. 30656j, Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung Rheinland, S. 2.
der Lehren des Wort Gottes, was laut Staat zur „geistigen Verwirrung“
20
des Volkes
führte. Die Zeugen Jehovas zählten neben den Juden
zu den meist verfolgten Grup-
pen zu Zeiten des NS-Regimes. Als Reaktion auf das Verbot des Preußischen Innen-
ministers vom 24. Juni 1933 sahen sie sich selbst zunächst nicht als Regimegegner –
im Gegenteil: In ihrem Brief an Adolf Hitler aus dem Jahre 1933 betonen sie, „[…]
dass in dem Verhältnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Regierung des
Deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen, sondern […] [die] rein religi-
öse[n], unpolitische[n] Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher […] in völliger
Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des
Deutschen Reiches sind.“
21
Obwohl sie also zunächst offiziell mit der Politik des NS-Regimes konform gingen,
ereilten auch sie zahlreiche Gefängnisstrafen und KZ-Aufenthalte. Die meisten
Festnahmen wurden mit der illegalen Betätigung als Bibelforscher begründet. Dazu
gehörten die Abhaltung privater Bibelstunden, die Verteilung der Flugblätter und
Schriften, Verbreitung der Zeitschrift „Wachturm“ und die Lehrenverbreitung.
22
Es
gab jedoch eine
ganze Reihe weiterer Gründe, weshalb die IBV als Bedrohung des
Regimes wahrgenommen wurde: Zum ersten war der Maßstab für das Handeln der
Ernsten Bibelforscher die Bibel und nicht die staatlichen Maßnahmen und
Anordnungen.
23
Sie befolgten nur die Regeln und Gesetze des Staates, solange diese
im Einklang mit den Textstellen der „heiligen Schrift“ standen. „Daher war sowohl
20
Verhörprotokoll (o. Dat.), in: Bestand BR 2309 Nr. 7; Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung Rheinland,
S. 3.
21
Vgl. Brief (25.06.1933) an Reichskanzler, in: Bestand BR 0007 Nr. 30656j, Landesstaatsarchiv NRW,
Abteilung Rheinland, S. 1-3; siehe auch Abb. 1.
22
Vgl. Einlieferungs-Anzeige (26.06.1936), in: Bestand BR 2278 Nr. 27, Landesstaatsarchiv NRW,
Abteilung Rheinland; vgl. auch Brief (13.04.1938) an Gestapo Düsseldorf, in: Bestand BR 2278 Nr. 49,
Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung Rheinland; vgl. auch Ermittlungsprotokoll (15.02.1938), in: Bestand
BR 2396 Nr. 933, Landesstaatsarchiv NRW, Abteilung Rheinland.
23
Zipfel, Friedrich: S. 179.