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3
Informatik ist die Grundlage dessen, was etwas schlagwortlastig als Experimen
talmathematik bezeichnet werden könnte. Gemeint ist die Möglichkeit, mittels
ausgedehnter Beispielsuche durch Computer Hypothesen zu gewinnen oder zu
falsifizieren.
4
Schliesslich liefert Informatik erst die Möglichkeit, gewisse in Anwendungen
benötigte mathematische Objekte explizit zu konstruieren – man denke etwa
an (ganz) grosse Primzahlen.
Die Informatik hingegen ist ohne festes Fundament aus der Mathematik nicht vor
stellbar – ebenso wenig wie die Physik. Fundamentale Begriffe wie Algorithmus,
Auto mat, TuringMaschine, Graph, Hierarchie usw. sind mathematische Konzepte,
die allesamt vor dem Auftreten der Informatik als eigenständiger Wissenschaft
fruchtbar untersucht wurden und immer noch in der Mathematik untersucht wer
den.
Es gibt auch Begriffe, zu deren Erfassung beide Wissenschaften komplementär
benötigt werden: Man denke etwa an das umgangssprachliche «unmöglich». Die
Mathematik wird einen Sachverhalt als unmöglich bezeichnen, wenn es einen
strengen Beweis dafür gibt (oder, was etwas völlig anderes ist, einen strengen Be
weis dafür, dass ein solcher Beweis existieren muss ...). Die Informatik zielt vorab
auf die praktische Unmöglichkeit, das Bestehen dieses Sachverhalts mit limitierten
Zeit und Platzressourcen entscheiden zu können. Die mit der oben erwähnten
P=NPVermutung verknüpften sogenannten NPvollständigen Probleme würden in
dieser Sicht eine Grenze zwischen theoretischer Möglichkeit und praktischer Un
möglichkeit markieren.
Was sind denn die grundlegenden Unterschiede zwischen den Ansätzen der
Mathematik bzw. der – hier vor allem der theoretischen – Informatik, wenn es um
Problemstellung und Problemlösung geht? Als einige etwas naive Schlagwortpaare
können etwa dienen: In der Tendenz
n
untersucht Informatik Modelle menschengeschaffener Systeme, Mathematik
solche naturgeschaffener Systeme (Physik!),
n
ist der Ansatz der Informatik beschreibendkonstruktiv mit dem Ziel expliziter
Konstruktion von Lösungen, derjenige der Mathematik axiomatischdeduktiv
mit dem Ziel, Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen sicherzustellen,
n
beschäftigt sich Informatik mit der Beherrschung komplexer Endlichkeit, Ma
thematik mit der Erfassung von Nichtendlichkeit.
Informatik und Mathematik
119
Zu vergleichen sind hier zwei sehr verschiedene Situationen: Mathematik war seit
jeher ein Grundlagenfach (im umgangssprachlichen Sinn des Wortes) in den gym
nasialen Curricula, während Informatik – mit dem Status eines Ergänzungsfaches
– erst ab 2008 im MAR auftritt. Allerdings gibt der «Rahmenlehrplan Ergänzungs
fach Informatik für Maturitätsschulen» (von der EDK am 12.6.2008 genehmigt) in
Abschnitt C «Richtziele» deutliche Hinweise darauf, wie allgemein Informatik in
nerhalb gymnasialer Curricula aufgefasst werden sollte (vgl.weiter unten).
Mathematik am Gymnasium basierte traditionellerweise auf den drei Säulen
Algebra, Analysis und Geometrie. Die Gewichtung dieser Teile erfuhr im 20. Jahr
hundert einige Verschiebungen:
Geometrie hat an Bedeutung verloren. Die klassische euklidische Geometrie ist
heutigen Maturanden und Maturandinnen kaum mehr präsent – dies im Unter
schied etwa zu Grossbritannien, wo sie noch heute gepflegt wird (und zwar mit
hilfe von modernen Übersetzungen des Originaltextes von Euklids Elementen aus
dem 4. vorchristlichen Jahrhundert!). Damit ist das Paradigma des Aufbaus einer
exakten Wissenschaft nicht mehr vertreten. Das konstruktive Analogon, die so
genannte Darstellende Geometrie (DG), hat sich mit der Aufgabe der Typenmatur
verabschiedet. Restbestände treten noch gelegentlich im Schwerpunktfach Physik
und angewandte Mathematik auf (mit ungewissen Überlebenschancen, da viele der
heute diplomierten Mathematiklehrkräfte an Gymnasien im Studium keine Gelegen
heit haben, einen Kurs in DG zu belegen). An die Stelle dieser geometrischen Dis
ziplinen trat vorübergehend die sogenannte analytische (Koordinaten)Geometrie,
die heute aber abgelöst ist durch Lineare Algebra (weniger vornehm ausgedrückt:
Vektorgeometrie des dreidimensionalen Raumes). Ihre Stellung behauptet hat die
Trigonometrie, insbesondere auch im Hinblick auf Anwendungen in der Physik und
– innermathematisch – in der gymnasialen Analysis.
5.4
IstZustand am Gymnasium
Informatik und Mathematik
120
Einen grossen Anteil an der Gymnasialmathematik macht immer noch die Ana
lysis aus, das heisst Differenzial und Integralrechnung mit all ihren Anwendungen,
vor allem in der Physik. Der Fokus hat sich hier aber weg von konzeptueller Strenge
(Umgang mit Phänomenen der Unendlichkeit – Konvergenz, Grenzwert usw.) hin zu
mehr anwendungsbezogenen Themen bewegt. Eine Konsequenz ist, dass heutigen
Maturanden und Maturandinnen das Konzept eines Beweises nicht mehr geläufig
ist; ein weiterer Grund dafür mag sein, dass die ideale Übungswiese dafür auf
früherer Stufe, nämlich die euklidische Planimetrie, nicht mehr gepflegt wird.
In den 1980erJahren haben Probabilistik und Statistik prominent Einzug in die
gymnasialen Lehrpläne gehalten, unter anderem auch unter dem Motto «Hin zu den
Anwendungen». Damit einhergegangen ist eine gewisse Akzentuierung der Kom bi
na torik (eines der zentralen Gebiete der sogenannten Diskreten Mathematik).
Was die Informatik betrifft, so fordert der erwähnte Rahmenlehrplan Informa
tik folgende Grundkenntnisse:
1
Grundbegriffe und Grundkonzepte zur Problemmodellierung, Problemanalyse
und Entwurfsmethodik von Informatiklösungen verstehen
2
Verfahren zur Bewertung und Überprüfung der Korrektheit von Lösungen kennen
3
Grundlagen einer Programmiersprache kennen
4
Verschiedene Darstellungen von Informationen kennen
5
Grundlagen der digitalen Kommunikation verstehen
6
Die Grenzen der Berechenbarkeit kennen
Dies sind zugegebenermassen ziemlich allgemeine Umschreibungen. Ohne über
zogene Anforderungen hineinlesen zu wollen, muss wohl festgestellt werden, dass
ohne gewisse Einsichten in Gebiete wie Algorithmen, Aussagen und Prädikaten
logik, diskrete Strukturen, abstrakte Rechenmaschinen (um nur einige zu nennen)
ein Verständnis von vielen der oben erwähnten Konzepte nicht möglich ist.
Eine implizite Definition dieser Gebiete kann am Begriff «Computer als Maschi
ne» aufgezeigt werden: Physisch und technisch betrachtet ist er ein Objekt der
Physik und der Elektrotechnik, seine Grundkonzepte gehören aber in die Mathema
tik, und zwar hauptsächlich in den Bereich der sogenannten Diskreten Mathematik.
Wenn wir im Lichte der obigen Ausführungen das jetzige Grundlagenfach Mathe
matik mit einem zukünftigen Grundlagenfach Informatik vergleichen, stellt sich
heraus, dass die gymnasiale Mathematik nur einen Teil der für die gymnasiale In
formatik notwendigen Mathematik abdeckt. Diese aktuell im Gymnasium nicht un
terrichtete Mathematik betrifft im Wesentlichen die Diskrete Mathematik.
Informatik und Mathematik
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