121
Fazit:
Diese gerade aufgezählten Gebiete fallen allesamt unter die privilegierte
Partnerschaft von Mathematik und Informatik, wie sie in Kapitel 5.1 beschrieben
wurde. Andererseits trägt die oben skizzierte reale Welt der Gymnasialmathematik
heute nur wenig zu solchen Begriffsbildungen bei. Die Schlussfolgerung ist des
halb: Ein Grundlagenfach Informatik am Gymnasium muss in enger Wechselwirkung
mit dem Grundlagenfach Mathematik konzipiert werden.
Informatik und Mathematik
Es geht hier nicht darum, Inhalte eines Grundlagenfachs Informatik (GF Informa
tik) zu diskutieren, die informatikseitig nicht in den Bereich der oben diskutierten
privilegierten Partnerschaft fallen. Die zentrale Frage ist, wo die Mathematik ange
siedelt werden soll, die im mathematischen Normalcurriculum schwach oder nicht
vertreten ist, aber als Grundlage eines GF Informatik benötigt wird. Diese Mathe
matik wird in den Bereich der privilegierten Partnerschaft fallen; Umfang und In
halt werden entscheidend von Umfang und Inhalt des GF Informatik abhängen, die
beide erst zu definieren sind. Der Einfachheit halber bezeichnen wir den in diesem
Kapitel angesprochenen Teil der Mathematik kurz als Gymnasiale Diskrete Mathe
matik (GDM).
Wenn man nach dem Zufallsprinzip zwölf (andere zufällig gewählte Anzahlen
nicht ausgeschlossen!) verschiedene einführende Texte mit dem ungefähren Titel
«Introduction to Discrete Mathematics for Computer Scientists» auf ihren Inhalt
überprüft, wird man mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit fast überall etwas
finden zu:
n
Endliche und abzählbare Mengen, Induktion vs. Rekursion
n
Äquivalenzrelationen, Relationenalgebra
n
Natürliche, rationale und Binärzahlen
n
Wenig Zahlentheorie und einfache Algorithmen (wie etwa der euklidische)
n
Kombinatorik
n
Ordnungstheorie
n
Graphentheorie
n
Listen, Bäume
n
Boolesche Algebra, Wahrheitstafeln, klassische Aussagenlogik
n
Matrizen
n
Komplexität
usw.
5.5
Modellansätze
122
Informatik und Mathematik
123
Man ergänze die Liste nach eigenem Gusto.
Davon ist im Normalcurriculum des Grundlagenfachs Mathematik – wie in Kapi
tel 5.4 ausgeführt – nur die Kombinatorik verlässlich abgedeckt, während Induk
tion und Rekursion etwa noch in der Ecke «Folgen und Reihen» ein Schattendasein
fristen. Wir akzeptieren im Folgenden (im Sinne einer Arbeitshypothese) die oben
stehende Liste als Modell für GDM.
Die Gretchenfrage ist, wo GDM untergebracht werden soll. Drei Szenarien sind
denkbar:
a
im Grundlagenfach Mathematik,
b
im neuen Grundlagenfach Informatik,
c
verteilt auf beide.
Variante c) erscheint wenig attraktiv: Sie birgt dieselben Probleme, die in den
1990erJahren die Verteilung von Informatik auf anwendende Fächer mit sich
brachte – einfach in engerem Rahmen.
Variante a) bedingt wahrscheinlich eine Stoffaufstockung im GF Mathematik,
da sich unter dem jetzt etablierten Kanon für jeden bestehenden Teil rasch eine
argumentativ gut aufgerüstete Lobby bilden wird. Dies ruft sofort nach einer Er
höhung der Stundendotation im GF Mathematik – was parallel zur Einführung eines
GF Informatik entweder illusorisch ist oder mindestens die Stundendotation des GF
Informatik aktiv gefährdet.
Variante b) erscheint am attraktivsten: Mit ihr werden dem GF Informatik ge
wisse mathematische Inhalte übertragen. Damit sie dem üblichen Schicksal der
Verteilung (diesmal auf bestimmte informatische Anwendungen – vgl.oben) ent
gehen, müssten diese Inhalte explizit als mathematische ausgewiesen werden, zum
Beispiel unter einem Titel wie GDM. Zum einen wird dadurch der Tatsache Rechnung
getragen, dass GDM keineswegs nur auf informatische Inhalte hinzielt, sondern
viele Bereiche des täglichen Lebens unterlegt (man denke an Sortieren, Doodle,
Zitatenmanagement, Lexika, elektronischen Hypertext als Konkurrent des Buches,
Taxonomie …). Zum anderen könnte GDM so vielleicht sogar die Stellung des GF
Mathematik stärken, indem durch sie Maturandinnen und Maturanden für die Ma
thematik abgeholt werden, die dem traditionellen Mathematikcurriculum indiffe
rent bis ablehnend gegenüberstehen: Der Stoff kann algorithmisch nahe bei der
Programmierung und damit sehr operationell und konkret behandelt werden. Hier
muss allerdings darauf geachtet werden, dass nicht der sogenannte Mathematik
frust in ein künftiges GF Informatik verschoben wird!
Informatik und Mathematik
Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch auf eine korrekte mathe
matikhistorische Analyse. Sie sind als Gedankenspiel zu betrachten, wie sich die
uns heute geläufige Mathematik auch auf eine andere, der Informatik viel nähere
Basis hätte stützen können.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet die Mathematik in ihre heftigste Grund
lagenkrise seit der Eudoxos zugeschriebenen Entdeckung irrationaler (Zahlen)Ver
hältnisse im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Die in ihren Grundzügen von Cantor
am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Mengenlehre erwies sich als wider
sprüchlich. Im Gefolge wurden Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene, aber
weitgehend äquivalente Axiomensysteme für den Umgang mit Mengen vorgeschla
gen, welche die aufgetretenen Widersprüche aus der Welt schafften, am bekanntes
ten vielleicht das ZermeloFränkelSystem, kurz ZF. Der Erfolg war durchschlagend:
Mathematik stellt sich heute weitestgehend im Rahmen der Mengenlehre dar. Dabei
werden Mengen als unspezifizierte Grundobjekte betrachtet, zwischen denen die
Beziehung «ist Element von» bestehen kann. ZF gibt im Wesentlichen ein (endli
ches) System von mehr oder minder intuitiven Regeln vor, die zusammen die Eigen
schaften dieser Beziehung festlegen. Kurz (und etwas übertrieben): Die Beziehung
«ist Element von» ist das Grundkonzept der Mathematik.
Es hätte (vielleicht) auch anders kommen können. In den 1920er und 1930er
Jahren entwickelten Logiker wie Church, Curry, Kleene und Schönfinkel aus ver
schiedenen Motiven (neue Grundlage für die Logik, Grundlage für einen Funktio
nenkalkül) den sogenannten LambdaKalkül bzw. die kombinatorische Logik, die in
enger Beziehung stehen. Grundidee ist, Funktionen als unspezifizierte Grundobjek
te zu betrachten, die mittels einer binären Operation «wird angewendet auf» wei
tere solche Objekte liefern. Insbesondere wird kein Unterschied gemacht zwischen
Funktion und Argument – eine Vorwegnahme der Identifikation von Programmen
und Daten. Diese Ideen blieben für fast 50 Jahre einem kleinen Kreis von Logikern
5.6
Epilog: Wie es auch hätte
kommen können
124
Informatik und Mathematik
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