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Zweitens bedarf es konkreter Vorschläge zur Reorganisation der Geisteswis-
senschaften sowohl in ihrer universitären als auch in ihrer außeruniversitären
Gestalt. Beides ist – in Form von 10 Thesen und deren Begründung – Ge-
genstand und Zweck des Manifests.
1. Elemente einer besten aller möglichen (geistes-)wissenschaftlichen
Welten
Thesen
1.1 Die Geisteswissenschaften bleiben auch in Zukunft im wesentlichen Uni-
versitätswissenschaften. Universitäten stellen den Kern unseres Wissenschafts-
systems dar. Sie bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs aus und sind, nicht
zuletzt aufgrund ihrer Fächer- und Disziplinenvielfalt, in besonderer Weise
befähigt und aufgerufen, neues Wissen hervorzubringen und durch Lehre zu
vermitteln. Die Geisteswissenschaften, die als Universitätswissenschaften Teil
des Wissenschaftssystems sind, benötigen in ihrer Arbeit ein breites wissen-
schaftliches Umfeld, das auch die Naturwissenschaften und die Sozialwis-
senschaften einschließt. Denn ihre Aufgabe sollte es sein, die kulturelle Form
der Welt, zu der auch die Wissenschaften gehören, in Analyse und Konstruktion
begreifbar zu machen und sie auf diese Weise zugleich zu befördern.
1.2 Neues Wissen in Wissenschaftsform entsteht nicht nur innerhalb der klas-
sischen Fächer und Disziplinen, sondern mehr und mehr auch an deren Grenzen
bzw. in Kooperation mit anderen Fächern und Disziplinen. Die Generierung
des neuen Wissens und der Umgang mit diesem Wissen, einschließlich dessen
Anwendung, erfordern sowohl disziplinäre als auch transdisziplinäre Kom-
petenzen, wie sie dem Wesen und der Konzeption nach mit der Universität
gegeben sind. Auch die Geisteswissenschaften sind im Kern, weil sie sich unter
je verschiedenen Gesichtspunkten auf die kulturelle Form der Welt beziehen,
auf transdisziplinäre Wissensformen verpflichtet. Dies sollte in Zukunft auch
in ihrer institutionellen Organisation zum Ausdruck kommen.
1.3 Die Geisteswissenschaften haben, wie andere Wissenschaften auch, im
Laufe der Zeit eine zunehmend fachliche und institutionelle Partikularisierung
erfahren. Für diese Entwicklung gibt es häufig keine überzeugenden wissen-
schaftstheoretischen Gründe. Daher sollten auch, der modernen Forschungs-
und Wissenschaftsentwicklung folgend, überholte fachliche und disziplinäre
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Parzellierungen innerhalb der Geisteswissenschaften in neuen Organisations-
formen aufgehoben werden. Es muß ein Höchstmaß an systematischer und
institutioneller Flexibilität im Fachlichen wie im Disziplinären zurückgewon-
nen werden.
1.4 Die heute in den Geisteswissenschaften noch überwiegende, häufig klein-
teilige Institutsstruktur sollte im Regelfall in eine Department- oder Zentren-
struktur, mit dem Ziel wiederherzustellender größerer disziplinärer Einheiten,
überführt werden. Departments oder Zentren neuer Art könnten dabei mit Blick
auf die Aufgaben in Forschung und Lehre auch den Rahmen der traditionel-
len Philosophischen bzw. Geisteswissenschaftlichen Fakultät überschreiten.
Grundsätzlich müssen die institutionellen Strukturen auf Funktionen bezogen
sein und leichter als die bisherigen Strukturen aufgabenbezogene Unterschiede
zulassen (siehe 1.3). Eine uniforme Struktur für alle Universitäten läßt sich
nicht rechtfertigen.
1.5 Die empfohlenen Strukturen sollten dort, wo dafür besonders günstige
Voraussetzungen bestehen, durch die Einrichtung von Exzellenzzentren auf Zeit
(Institutes for Advanced Studies) ergänzt werden, d.h. durch exzellente For-
schungseinheiten, in denen jene fach- und disziplinenübergreifende Arbeit
im Forschungskontext intensiv erfolgen würde, aus der auch in den Geistes-
wissenschaften theoretische und praktische Innovationen entstehen. Derartige
Zentren könnten, in enger Verbindung mit den Universitäten, auch an den
Akademien der Wissenschaften angesiedelt sein.
1.6 Um den Geisteswissenschaften einen Platz in der gesellschaftlichen Mitte
zu sichern und sie in die Lage zu versetzen, von dort aus das Gespräch mit der
Gesellschaft zu suchen und zu führen, sollte eine durch Bund und Länder
finanzierte größere wissenschaftliche Einrichtung nach dem Modell des Col-
lège de France geschaffen werden. Diese Einrichtung würde wesentlich zur
inneren wie zur institutionellen Einheit geisteswissenschaftlicher Forschung
(z.B. auf dem Wege der Koordination und der Beratung der Exzellenzzentren)
beitragen können. Auch die internationale Sichtbarkeit würde deutlich erhöht.
1.7 Außeruniversitäre geisteswissenschaftliche Institute im Inland wie im Aus-
land (meist historische Institute) sollten, soweit sie in wissenschaftlicher wie
in wissenschaftspolitischer Hinsicht erfolgreich arbeiten, fortgeführt und ge-
gebenenfalls an der Verantwortung für geisteswissenschaftliche Langzeitpro-
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jekte (in der vorgeschlagenen Struktur) beteiligt werden. Die im Zuge der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf dem Hintergrund der Empfe-
hlungen des Wissenschaftsrates entstandenen Geisteswissenschaftlichen Zen-
tren sollten, etwa in Form der empfohlenen Exzellenzzentren (wenn dafür die
wissenschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind), in Universitäten zurückge-
führt oder als Akademieinstitute an der Universität institutionell verankert wer-
den.
1.8 Neben den Universitäten, jedoch im Arbeitskontext eng mit ihnen ver-
bunden, sollten die Akademien der Wissenschaften auch in Zukunft Zentren
geisteswissenschaftlicher Arbeit sein. Im Unterschied zu ihrer bisherigen Be-
schränkung auf im wesentlichen editorische Projekte in einem Langzeitrahmen
käme es jedoch darauf an, auch hier die geisteswissenschaftliche Arbeit enger
mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen, so z.B. mit Fragen der Behebung
kultureller Orientierungsdefizite, zu verbinden. Auf diese Weise, und in der
systematischen Vermittlung zwischen allen Wissenschaftsbereichen, könnten
die Akademien auch wieder zu Stätten wissenschaftlicher Gesellschaftsbe-
ratung werden.
1.9 Zur Durchführung geisteswissenschaftlicher Langzeitprojekte, insbeson-
dere Editionsprojekte, sollten selbstständige Editionsinstitute unter professio-
neller Leitung geschaffen und die an den Akademien bestehenden Projekte in
diese Zentren überführt werden (gegebenenfalls auch in ein nach dem Muster
der Helmholtz-Zentren eingerichtetes Wissenschaftszentrum Geisteswissen-
schaften für Langzeitvorhaben). Die Betreuungsaufgabe der Akademien, in
Form von projektbezogenen Kommissionen, bliebe von dieser Maßnahme un-
berührt. Projekte, die nach dem Willen einer Akademie – etwa weil diese we-
sentlich das Arbeitsprofil dieser Akademie bestimmen – in ihrer bisherigen
Form als Akademieprojekte weitergeführt werden sollen, könnten weiterhin
an Akademien angesiedelt sein, müßten dann aber in eine reine Länderfinan-
zierung überführt werden.
1.10 Die zunehmende Wirklichkeit eines europäischen Forschungsraumes, der
unter anderem durch die Einrichtung eines European Research Council (ERC)
eine wesentliche Förderung erfahren wird, läßt auch an ein europäisches Pro-
gramm für die Geisteswissenschaften denken. Das ERC dient seiner Konzep-
tion nach der Förderung der Grundlagenforschung und schließt die Geistes-
wissenschaften ausdrücklich ein. Unter einer europäischen Perspektive würde
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