H e r m e n e V t I k a in humanistika II



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tiven Geistes, durch die die Gegenstände der Geisteswissenschaften bestimmt

werden, bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund treten.



2.3 Geisteswissenschaftliche Disziplinarität

Auch das disziplinäre Bewußtsein der Geisteswissenschaften ist unklar. Die im

Zuge der Akademisierung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert sich

bildende und bis heute im wesentlichen aufrechterhaltene Fächerstruktur hat

zu einer Auflösung des (geisteswissenschaftlichen) Disziplinenbegriffs geführt.

Dieser ist nicht identisch mit dem Fächerbegriff, sondern folgt der historischen

Entwicklung der historischen Wissenschaften, der Sprach- und der Literatur-

wissenschaften. Der neuerdings unter dem Titel Kulturwissenschaften einge-

schlagene Weg ist ein Holzweg, wenn – was faktisch weitgehend der Fall ist –

den Begriff der Kulturwissenschaften im wesentlichen die so genannten Cul-

tural und Areal Studies darstellen. Da hilft auch der häufig gesuchte Anschluß

an die angelsächsischen Humanities nicht weiter. Deren Tradition ist durch das

Kulturwissenschaftsmodell geprägt; und dieses Modell steht im Gegensatz zum

idealistischen Modell der Geisteswissenschaften, das an deren Wiege stand.

Solange dieser Gegensatz nicht klar und wissenschaftssystematisch keine Ent-

scheidung über die eigene Entwicklungsperspektive herbeigeführt ist, bleibt es

bei Mischformen, die einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen systemati-

schen und institutionellen Schwäche der Geisteswissenschaften ausmachen.



3. Zum Selbstverständnis und zur Selbstdarstellung der Geisteswissen-

schaften

Das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung der Geisteswissenschaften

sind heute (zumindest in Deutschland) im wesentlichen durch zwei Konzep-

tionen bestimmt, die den Geisteswissenschaften zwar in Selbstbehauptungs-

dingen zur Hilfe zu kommen glauben, sie in Wahrheit aber zusätzlich schwä-

chen. Die Rede ist von der Zwei-Kulturen-Konzeption und der so genannten

Kompensationstheorie.

3.1 Die zwei Kulturen

In der Selbstwahrnehmung der Wissenschaft, darin das Selbstbewußtsein des

naturwissenschaftlichen und des technischen Verstandes und die Zögerlichkeit

des geisteswissenschaftlichen Verstandes zum Ausdruck bringend, hat sich das

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Wissenschaftssystem in zwei Kulturen zerlegt. Nach C. P. Snow, dem 

,Erfinder‘

dieser Klassifikation, haben die Naturwissenschaften die Zukunft im Blut –

und die moderne Welt in der Hand –, die Geisteswissenschaften nur die Ver-

gangenheit. Die einen sind science, d.h. Messen und Wiegen, die anderen

,Literatur‘ und ,Geschichte‘, d.h. Bildung und Erinnerung. Der naturwissen-

schaftliche Verstand blickt nach vorne, dorthin, wo auch die Zukunft der mo-

dernen Welt und der modernen Gesellschaft ist, der geisteswissenschaftliche

Verstand blickt zurück, dorthin, wo er und wo der naturwissenschaftliche Ver-

stand einmal waren. Damit scheint die Welt geteilt und sind die Geisteswis-

senschaften von einem Modernisierungsdruck scheinbar entlastet. Diese Ent-

lastung, wenn sie denn als solche angesehen wird, könnte allerdings für sie das

Aus bedeuten, jedenfalls mit wissenschaftlichen Maßen gemessen. Die Gei-

steswissenschaften gerieten selbst aus der Abteilung Wissenschaft in die Ab-

teilung Kultur und hätten sich hier mit Mitbewerbern einer 

,Kulturindustrie‘

auseinanderzusetzen.

3.2 Kompensation

Die Geisteswissenschaften haben den Ball, den ihnen die Zwei-Kulturen-Kon-

zeption zugespielt hat, aufgefangen und versuchen seither, mit ihm glücklich

zu werden. Nach der so genannten Kompensationstheorie (Marquard und Lüb-

be) kompensieren die Geisteswissenschaften Modernisierungsschäden, die die

Naturwissenschaften und die Technik, deren Werk die moderne Welt ist, ver-

ursachen. Ein ursprüngliches Konzept, das in der Philosophie des Deutschen

Idealismus den Dualismus von Natur und Geist entdeckte, um ihn sogleich

zugunsten einer Philosophie des Geistes zu überwinden, tritt affirmativ auf die

Seite der Zwei-Kulturen-Anhänger und übernimmt damit bereitwillig eine

zwergenhafte Rolle, die den Geisteswissenschaften in einer kompensatorischen

Kultur allein noch zu verbleiben scheint. Die Welt ist geteilt, und der Geist, der

sich nun als geisteswissenschaftlicher bezeichnet, ist mit seinem kleinen Stück,

das ihm von der anderen Kulturseite zugewiesen wurde, zufrieden.



3.3 Die kulturelle Form der Welt und die Aufgabe der Geisteswissenschaften

Die moderne Welt hat kein Bewußtsein von sich selbst, und wenn doch, dann

ein falsches, z.B. ein ökonomistisches oder ein technizistisches: der ökono-

mische und der technische Verstand als das Maß aller Dinge. Orientierungs-

probleme, unter denen moderne Gesellschaften leiden, sind nicht zuletzt in

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diesem Umstand begründet. Die Geisteswissenschaften, die hier gelegentlich

und meist erfolglos zur Abhilfe beschworen werden, sind zwar keine Orien-



tierungswissenschaften – Orientierung ist keine wissenschaftliche Aufgabe,

aber eine Aufgabe, an deren Lösung der wissenschaftliche Verstand beteiligt

sein sollte –, doch haben es die Geisteswissenschaften mit der kulturellen Form

der Welt und mit der Anstrengung zu tun, sich dieser Form zu vergewissern.

Eine derartige Vergewisserung, das lebendige Wissen einer Kultur von sich

selbst, und zwar in Wissenschaftsform, ist zur Stabilisierung und Entwicklung

moderner Gesellschaften ebenso wichtig wie ein wissenschaftsgestütztes öko-

nomisches und technisches Können.

Im einzelnen geht es um die sprachliche Form der Welt (Sprachwissen-

schaften), um die ästhetische Form der Welt (Literaturwissenschaften), um die

historische Form der Welt (Geschichtswissenschaften), um die rationale Form

der Welt (Geisteswissenschaften auf dem Wege zur Philosophie) und um andere

Formen, in denen sich die Welt als das Werk des Menschen zu erkennen gibt.

Um ein derartiges Profil zu realisieren, müssen die Geisteswissenschaften eine



transdisziplinäre Orientierung wiedergewinnen, verstanden als die Aufhebung

fachlicher und disziplinärer Parzellierungen, wo diese ihre historische und

systematische Erinnerung an eine ursprüngliche Einheit der geisteswissen-

schaftlichen Arbeit verloren haben. Transdiziplinarität als Forschungs- und

Kompetenzform gehört im Grunde zum Wesen der Geisteswissenschaften.

Diese können sogar, ihrer ursprünglichen (idealistischen) Idee nach, als

das eigentliche wissenschaftssystematische Paradigma einer transdisziplinären

Ordnung gelten.

Wissenschaftssystematisch bedeutet ein Wiedereintritt in das ursprüngliche

Paradigma: (1) Auflösung der falschen fachlichen Partikularitäten in den Be-

reichen Literatur, Sprache und Geschichte. (2) Überwindung des Zwei-Kul-

turen-Mythos durch die Bildung von Forschungsschwerpunkten an den Schnitt-

flächen beider Kulturen. (3) Ersetzung des historistischen Paradigmas durch

ein philosophisches Paradigma bei gleichzeitiger Wiederbesinnung der Philo-

sophie auf ihr systematisches Wesen.

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