Seminar für allgemeine pädagogik


Platon (428/7-348/47 v.Chr.)



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3.2 Platon (428/7-348/47 v.Chr.)


    In der Blütezeit der griechischen Antike im fünften und vierten Jahrhundert wird die Rhetorik eine der wichtigsten „Künste“ im öffentlichen Leben. Die Rede spielt vor allem als politische Rede (in der politischen Versammlung), als juristische Rede (vor Gericht) und als Prunkrede (bei feierlichen Anlässen) eine hervorragende Rolle. Die Rhetorik dient ganz bestimmten Zwecken im öffentlichen Leben unter Einschluß von Argumentation. Dementsprechende Bedeutung besitzt die Rhetorik als Kunst (gr. techne) der Rede. Der Begriff „techne“ bezeichnet im antiken Sprachgebrauch eine „Lehre“, ein Sachgebiet, das durch Erfassung des Ganzen gemäß anwendbaren Regeln erlernbar sei, sowie dies heute noch im Begriff der Schmiedekunst, der Heilkunst oder der Lehrkunst mitschwingt; der hier gebrauchte Begriff „Kunst“ (techne) darf nicht in seinen modernisierten Varianten im Sinne von „künstlich“, ästhetisch oder „künstlerisch“ mißverstanden werden.

    Bei Platon erscheint die Rhetorik vor allem im Spiegel seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten, wird also als Negativfolie benutzt, um davon die Suche nach Wahrheit um ihrer selbst willen positiv abheben zu können: Bezogen auf die Methode ist die Suche nach Wahrheit Angelegenheit der Dialektik; bezogen auf die Sache ist die Suche nach Wahrheit Aufgabe der Wissenschaft (episteme) und steht im Zentrum der Philosophie.

    Die heutige Argumentationstheorie hat ihren klassischen Vorläufer demgemäß in der Dialektik (gr. dialégesthai = disputieren, Rede und Gegenrede führen). In diesem Sinne bleibt der Begriff Dialektik bis in die Neuzeit erhalten, indem er noch für Schleiermacher (1776-1834) eine Methode bildet, die verschiedenen Ausgangspunkte eines Gesprächs zu einer gemeinsamen Auffassung zu führen, der sich beide Parteien verpflichtet fühlen.

    Der Mathematiker und Philosophen Alfred N. Whitehead (1861-1947) äußerte einmal scherzhaft, die gesamte abendländische Philosophiegeschichte nach Platon reduziere sich als eine Reihe von Fußnoten zu dessen philosophischem Werk. Daß an dieser Bemerkung etwas Wahres ist, läßt sich insbesondere am Beispiel der menschlichen Sprache verdeutlichen. Die Leistung Platons für Rhetorik, Dialektik und Sprachphilosophie besteht in einer Reihe von grundlegenden Unterscheidungen und Akzentsetzungen, die - über verschiedenen seiner „Dialoge“ verstreut - Ausgangspunkte für wissenschaftliche Disziplinen und erkenntnisleitende Konzepte wurden:



  • die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Rede, für die Platon andere Kriterien fand, als sie heute üblich sind, die gleichwohl den Ausgangspunkt für den Zusammenhang von Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie bildet;

  • die Unterscheidung von Hauptwörter und Zeitwörtern als die wesentlichen Bestandteile eines Satzes (Ausgangspunkt für die Grammatiklehre);

  • die Unterscheidung von (1) Wahrnehmung einer Sache, (2) ihrer sprachlicher Bezeichnung (Lautgestalt), (3) dem äußeren Erscheinungsbild der bezeichneten Sache, (4) der inneren Form der bezeichneten Sache und schließlich (5) der ihr zu Grunde liegenden wahren „Idee“ - einem Erkenntnismodell, in dem fast der gesamte Horizont sprachphilosophisch-linguistischer Fragestellungen abgebildet ist;

  • die Verteidigung der Suche nach Erkenntnis um der Wahrheit willen (Dialektik) gegenüber interessengebundener Überredungskunst (Rhetorik), die gleichzeitig die wahrheitsgeleitete Theorie der Erkenntnis (Philosophie) von interessengeleiteten Praxis trennen will;

  • die Begründung der Vorrangstellung der gesprochenen vor der geschriebenen Sprache als Mittel der Wahrheitsfindung.

    Platons Dialog Kratylos gilt als das ältestes vollständig erhaltene Dokument europäischer Sprachphilosophie (Kraus 1996, S. 19). Hier geht es, kurz gesagt, um die Frage: Sind die richtigen Bezeichnungen der Dinge „von Natur aus“ gegeben oder existieren sie nur auf Grund von Konvention? Im Kratylos entwickelt Platon die Vorstellung, daß ein oberster „Wortbildner“ als „Gesetzgeber“ die Laute des Begriffs in Analogie zur „Idee“ dieses Begriffs abbilde. Diese Analogievorstellung widerspricht der heutigen Auffassung von der lexikalischen Funktion der Begriffe, die Lautgestalt und Bedeutung des Begriffs als in der Regel nicht miteinander gekoppelt sieht.. Platons Auffassung gewinnt dennoch Bedeutung, weil er im gleichen Zusammenhang den Werkzeugcharakter der Worte hervorhebt (gr. organon = Werkzeug):

    Das seiner Natur nach jedem angemessene Werkzeug muß man herausgefunden haben und dann in dem niederlegen, woraus das Werk so gemacht werden soll, nicht wie es jedem einfällt, sondern wie es die Natur mit sich bringt. (Platon 1990, Bd. 3, S. 417: Kratylos 389 c))

    Die Worte müssen als Lautzeichen passend zu dem sein, was mit ihnen ausgedrückt werden soll. Da sie andererseits an der ihnen zu Grunde liegenden „Idee“ teilhaben, hat das Wort - allgemein die Sprache - sowohl Abbild - als auch Mittelcharakter. Die Benennung der Dinge spielt in den Dialogen Platons eine große Rolle; die Zusammenfassung mehrerer Einzeldinge mit einem Begriff hatte vermutlich Einfluß auf die Ausbildung seiner Ideenlehre Platons (Kraus 1996, S. 25).

    In anderen Dialogen knüpft Platon an die sprachphilosophischen Äußerungen im „Kratylos“ an; das Thema wird insbesondere in den Dialogen Theaitetos, Sophistes, Politikos fortgefürt (vgl. Platon 1990; Bd. 6): Der Erkenntnis, daß einerseits das Wesen der Dinge (ihre „Idee“) Voraussetzung für gesichertes Wissen, Sprache und Kommunikation sei, stellt Platon immer wieder die Frage gegenüber, wie Irrtum zustande komme und wie er von der Wahrheit unterschieden werden könne. Gemäß seiner philosophischen Anschauung bildet die Welt der Ideen den eigentliche Ort der Wahrheit, während die menschliche Realität nur die unvollkommenen Abbildungen dieser Ideen enthält. Die fünf obersten Ideen sind: das Sein, Ruhe, Bewegung, Identität, Differenz (Platon 1990, Bd. 6, S. 351: Sophistes 254 c-e).

    Die Form, in der Platon philosophiert, ist bekannt: In Rede und Gegenrede werden Argumente auf ihren Wahrheitswert geprüft. Die Dialektik entfaltet sich im Dialog des Protagonisten Sokrates, der sich im Gespräch mit einem oder mehreren Gesprächspartnern befindet. So ist der Dialog bei Platon angelegt als Kommunikationsform, die es in Rede und Gegenrede vermag, anscheinend gesichertes Wissen als Scheinwissen zu entlarven. Mit Hilfe der eingebrachten Pro- und Contra-Argumente wird die zu Grunde liegende Frage einem neuen Klärungsprozeß zugeführt. Am Ende eines Dialoges findet sich allerdings oft eine offenes Ergebnis ohne Lösung des Problems.

    Als angesehener Gründer einer philosophischen Schule (der „Akademie“), hatte Platon sich kritisch mit den Sophisten auseinanderzusetzen - jenen Zeitgenossen, die er als seine Gegner betrachtete und als „Wortverdreher“ bezeichnete. Die Sophisten repräsentierten im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert im antiken Griechenland eine geistige Bewegung, mit kritisch-aufklärerischer Tendenz. Sie bekundeten vor allem Skepsis gegenüber den absoluten Wahrheitsansprüchen der etablierten Philosophen. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ erkannte der Sophist Protagoras (485-415 v. Chr.), und der Sophist Gorgias von Leontinoi (um 485-um 380 v. Chr.) bezweifelte überhaupt jede Möglichkeit von Erkenntnis. Die Sophisten waren politisch - wie man heute sagen würde - „links“ orientiert, und besaßen rhetorische Kompetenz, eine Fähigkeit, die sie professionell vermittelten. Als Wanderlehrer waren sie darauf angewiesen, ihre Leistungen gegen Bezahlung anzubieten. Die etablierten philosophischen Lehrer wurden von ihnen nicht nur mit sachlichen, sondern auch mit rhetorischen kritisiert, ja ad absurdum geführt.

    Die Auseinandersetzung mit der Sophistik ist ein zentrales Thema Platons. Die sophistische Rhetorik wird als Scheinkunst entlarvt und ihr die dialogische Wahrheitssuche gegenübergestellt. Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bilden Platons Dialoge Gorgias und Phaidros.

    Grundthema beider Dialoge ist die gesprochene Sprache (Rhetorik). Wird die Rede nur als Mittel zur Erreichung eines bestimmen Zweckes eingesetzt, bringt sie Glauben ohne Erkenntnis hervor. Wahre Erkenntnis hervorzubringen ist dagegen ihre eigentliche Aufgabe. Im ersteren Sinne steht die Sprache im Dienste von Macht und Interesse, sie ist Überredungskunst. Im zweiten Fall steht sie im Dienst einer interessenfreien, vom Prinzip der Gerechtigkeit geleiteten Wahrheitsfindung. die im Dialog des Bezweifelns und Prüfens vorhandenen, aber unvollkommenen Wissens annäherungsweise möglich wird. Als Mittel der Machtsicherung ist Rhetorik an Wahrheit nicht interessiert, sie demütigt den, der die Wahrheit enthüllen will mit persönlicher Verletzung, wenn er die Wahrheit zu enthüllen versucht. Dafür gibt Platon im Gorgias ein Beispiel, das gleichsam zeitlos ist und auch heute noch Anwendung findet: So läßt Platon seinen Protagonisten Sokrates gegenüber dem jungen sophistischen Rhetor Polos ausrufen:

    Was soll dieses, Polos? Du lachst? Ist auch dies wieder eine Beweisart, wenn jemand etwas sagt, es zu belachen und nicht zu widerlegen? (Platon 1990, Bd. 2, S. 349: Gorgias 473 e).

    Das Auslachen an die Stelle von Argumenten setzen bedeutet, den Versuch zu machen, die Person zu demütigen, wenn man in der Sache kein Argument mehr hat.

    Ein zweites Reaktionsmuster, das in der Argumentationskultur der Gegenwart eine Rolle spielt und ebenfalls schon bei Platon vorfindbar ist, beantwortet die Frage, ob die vom Menschen durch Fortschritt und technische Vervollkommnung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten positiv oder aber problematisch zu bewerten seien. Heute im Zeitalter der Risikotechnologien, Umweltbelastungen und vielfachen Manipulationsmöglichkeiten des Menschen dürfte eine typische Reaktion auf diese Frage sein: Die Dinge, wie sie sind und wie sich durch Fortschritt weiter entwickeln, sind weder gut noch schlecht, es kommt nur darauf an, wie der Mensch sie benützt. Alles sei letztlich dadurch legitimiert, daß es existiere und Nutzen bringe. Ethische Probleme habe allenfalls derjenige, der die Errungenschaften der Zeit falsch anwende; Einzelfälle der Falschanwendung rechtfertigen nicht, das Ganze in Frage zu stellen.

    Platon läßt in diesem Sinne den Sophisten Gorgias gegen Sokrates argumentieren:

    wenn einer, der den Übungsplatz besucht hat und ein tüchtiger Fechter geworden ist, hernach Vater und Mutter schlägt oder sonst einen von Verwandten und Freunden, darf man deshalb nicht die Turnmeister und die Fechtmeister verfolgen und aus den Städten vertreiben. Denn diese haben ihre Kunst mitgeteilt, damit man sich ihrer rechtlich bediene gegen Feinde und Beleidiger zur Verteidigung, nicht zum Angriff, und nur jene kehren es um und bedienen sich der Stärke und der Kunst nicht richtig. Nicht also die Lehrer sind böse noch ist die Kunst hieran schuld und deshalb böse, sondern die, glaube ich, welche sie nicht richtig anwenden. Dasselbe nun gilt auch von der Redekunst. (Platon 1990, Bd. 2, S. 301: Gorgias 457 a)

    Platon ist grundsätzlich anderer Meinung: Jede Rede, die nicht um der Wahrheit willen, sondern um des bloßen Glaubenmachens geführt wird, sei problematisch. Werbung im modernen Sinn wäre aus der Sicht Platons bereits als Sache schlecht, nicht erst im Horizont ihrer möglichen Wirkungen. Vor allem bekämpft Platon die sophistische Argumentationsfigur: Du darfst gegenüber anderen Menschen alles tun, was dir zum Vorteil gereicht, wenn sie dir dank deiner Überzeugungsarbeit Glauben schenken. Dies ist der zentrale Vorwurf Platons gegenüber der Rhetorik der Sophisten. Platon will der Rhetorik nur den Rang einer „Übung“ zum Zweck des schmeichlerischen Überredens zubilligen, bestreitet dagegen vehement, daß sie eine ethisch verantwortlich ausgeübte „Kunst“ sei. Anhand des Beispiels, daß der Arzt mit seiner Kunst als höchstes Gesundheit bewirke, der Handelsmann Reichtum schaffe, stellt Platon die Frage: Welcher Art wäre für den Rhetor das höchste Gut, das er durch seine Fähigkeit erzeuge? Darauf antwortet Gorgias:

    Wenn man durch Worte zu überreden imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter als in der Ratsversammlung die Ratmänner und in der Gemeinde die Gemeindemänner und so in jeder Versammlung, die eine Staatsversammlung ist. Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, daß er andern erwirbt und nicht sich selbst sondern dir, der du verstehst, zu sprechen und die Menge zu überreden. (Platon 1990, Bd. 2, S. 287: Gorgias 452 e)

    Damit ist die Fähigkeit angesprochen, anderen Menschen durch bestimmte Techniken positiver Beeinflussung ein gutes feeling zu vermitteln (wobei Platon dem Rhetor eigennütziges Handeln unterstellt). Die Frage ist damals wie heute aktuell, ob und wie wir unsere Mitmenschen manipulieren dürfen, wenn wir es denn können.



    Stufen der Erkenntnis: Platon hatte nicht nur durch den eigenen Erkenntnisdrang, sondern auch durch die Rhetorik der Sophisten Anlaß, die Frage nach der Wahrheit gewonnener Erkenntnis zu stellen und nach methodischen Wegen zu suchen, sie zu sichern. Im Mittelpunkt der beiden Dialoge Theaitetos und Sophistes, steht die Frage nach der Sicherheit des Wissens (gr. episteme). Die Sinneswahrnehmung wird als trügerisch eingeschätzt; die eigentliche Wahrheit der Worte liegt in ihrer Teilhabe an der Ideenwelt. Dabei spielt der Begriff des lógos (Rede; Aussage; Vernunft; logisches Unterscheidungsvermögen) ein wichtige Rolle. Die Vernunft („Logik“) befähigt, Begriffe zu bestimmen, zu unterscheiden und zu definieren. Im Dialog Sophistes gelangt Platon zu der Erkenntnis, daß einerseits in der Verknüpfung einzelner Begriffe zur Aussage (lógos), andererseits in der Unterscheidung von Substantiv und Zeitwort die wichtigsten Verknüpfungselemente der Aussage gefunden seien (Platon 1990, Bd. 6, S. 377 f.). Kraus sieht eine wesentliche sprachphilosophische Leistung Platons darin, daß er ein „tragfähiges semiotisches Modell“ entwickelte:

    Worte beziehen sich danach nicht auf Sinnendinge, sondern primär auf Ideen. Da diese (und nicht die Sinnendinge) aber für Platon das eigentlich Seiende sind, gibt es folglich einen Seinsbezug der Sprache und somit auch ein Wahrheitskriterium. Gemäß der Lehre von der Wiedererinnerung (Anamnesis) kann die sprachliche Kommunikation auch auf die intersubjektive Identität der Ideenvorstellung bei allen Menschen bauen. Und da schließlich die Sinnendinge durch Teilhabe am Sein der Ideen partizipieren, ist die semiotische Relationskette von den Namen über die Ideen zu den Sinnendingen geschlossen. ... Daß dieses Modell bereits zwischen der Bedeutung eines Wortes und seinem referentiellem Bezug unterscheidet und damit vorausweist auf das moderne dreistellige Semiotikmodell, ist unverkennbar. (Kraus 1996, S. 25)

    Im berühmten 7. Brief entwickelt Platon ein Erkenntnismodell, in dem für jedes Seiende drei Erkenntnisstufen unterscheidet, durch die man zum gesicherten Wissen kommt: „Eins ist die Benennung das zweite die Erklärung, das dritte das Abbild, das vierte das Wissen“; während das fünfte das „wahrhaft Seiende“, darstellt, die Welt der Ideen (Platon 1990, Bd. 5, S. 415 f.; Epistolai: 342 a-d). Er konkretisiert das Gesagte am Begriff „Kreis“.

    Erkenntnisstufe konkretes Beispiel: „Kreis“


  1. Benennung: „Kreis“

  2. Erklärung: „von seinen äußersten Punkten zur Mitte überall gleichweit entfernt“

  3. Abbild „das, was gemalt und wieder ausgewischt wird“

  4. Wissen und Denken die“ wahre Ansicht“ darüber, die im menschlichen Bewußtsein ist

  5. Idee „Die Natur des Kreises an sich“

    Stufen der Erkenntnis nach Platon (7. Brief)

    Dieser 7. Brief aus der Sammlung der 13 epistolai (Briefe) Platons, die schon bald nach seinem Tod bekannt wurden, war an die Genossen des 354 v. Chr. ermordeten Philosophen Dion in Syrakus gerichtet; Dion, der Platon verehrte, wollte einen Staat nach dessen Philosophie gründen und geriet unter dem Einfluß falscher Freunde in Verdacht, Alleinherrscher werden zu wollen, was seine Ermordung zur Folge hatte. In diesem umfangreichen Sendschreiben Platons tritt an der eben zitierten Stelle seine Altersauffassung zutage, auf welche Weise gesicherte Wahrheit gefunden werden könne: Nicht die bloße Wahrnehmung, nicht die Sprache (Definitionen, Erklärungen), nicht das Handeln (Abbilden) bringe sichere Erkenntnis: allein die unmittelbare Ideenschau (entsprechend der fünften Stufe des Erkenntnismodells) sei der Weg zur Wahrheit.



    Abwertung der Schriftsprache: Platon steht im 7. Brief der Verbreitung seiner systematischen Lehre durch schriftliche Aufzeichnung ablehnend gegenüber; er äußert den ihm von Hörensagen bekannten Verdacht, der Tyrann Dionysius von Syrakus (der spätere Mörder Dions), den er besucht hatte, habe seine, Platons, Lehre zu Papier gebracht, und sie als die eigene ausgegeben. Aber auch die Bemühungen Platons, sein eigenes Verhalten und seine Bewertung des Geschehens gegenüber den Adressaten des Briefes deutlich zu machen, sind der eigentliche Anlaß zur Frage, wie Wahrheit sicher zu finden sei.

    So entwickelt Platon das oben beschriebene Erkenntnismodell. Indem er betont, daß die ersten vier Stufen der Erkenntnis Voraussetzung für die Erkenntnis der fünften Stufe sind, macht er gleichzeitig seine Distanz zur Schriftsprache deutlich: Wenn schon „Erklärungen durch Worte kraftlos“ seien, würde erst recht niemand auf die Idee kommen, das Unvollkommene und Veränderliche einer Form anzuvertrauen, die unveränderlich sei, „wie das ja mit dem in Buchstaben Geschriebenen der Fall ist“ (ebenda, S. 417).

    Viel Zeit und Übung vorausgesetzt, führe der Weg der sicheren Erkenntnis über beharrlich-mühevolles Fragen und Prüfen der unteren Erkenntnisstufen: Wenn er begangen werde „von Menschen, die ohne Mißgunst fragen und antworten, leuchten Einsicht und Verständnis über jeden Gegenstand auf, wenn man sich anspannt, soweit es in menschlichem Vermögen steht“ (ebenda, S. 421). So gesehen erscheint die schriftliche Form der Sprache vom Weg der Erkenntnis am weitesten entfernt. Im Phaidros läßt Platon seinen Protagonisten Sokrates auf eine Sage vom ägyptischen Gott Theut zu sprechen kommen, der neben Zahl, Meßkunst und Sternkunde auch das „Brett- und Würfelspiel“ sowie die Buchstaben erfunden haben soll. Theut, der in Sokrates’ Erzählung gegenüber dem ägyptischen König Thamus die Erfindung der Buchstaben als Mittel der Verstandes- und Gedächtnisschulung herausstreicht, erhält von diesem darauf allerdings eine negative Reaktion:

    „O kunstreicher Theut, einer versteht, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie doch unwissend größtenteils sind und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden sind statt weise.“ (Platon 1990, Bd. 5, S. 177: Phaidros 274e-275a)



    Gegenwartsbezug: Mit Blick auf die Geschichte der Kommunikationsmedien im allgemeinen und auf dieses Zitat im besonderen ist die Versuchung groß, Platons Unterbewertung der Schriftsprache als Ausgangspunkt für die abendländische Medienkritik anzusehen, die mit jedem neuen Medien - in der Gegenwart vor allem Fernsehen und Computer - ihre Stimme erhob. Mit der Durchsetzung des jeweiligen Mediums (man denke an Buchdruck, graphische Reproduktion, Film, Radio) haben Zeitgenossen, die vor negativen Folgen zu warnen nicht müde wurden, sich immer wieder eines Besseren belehren lassen müssen. Solche Hinweise findet man in der medienpädagogischen Literatur vor allem dann, wenn es darum geht, Medienschelte durch Hinweis auf ihr historisches Alter zu relativieren.

    Aber es gibt noch ein weiteres Anschlußthema, das ernster zu nehmen ist: Jacques Derridas These, daß der „Logozentrismus“ der abendländischen Philosophie „Phonozentrismus“ gewesen sei, der zu jener folgenschweren Dichotomisierung der Erkenntnis von „gut - böse“ = „innerlich - äußerlich“ geführt habe. Die unmittelbar-mündlich Präsenz werde üblicherweise der mittelbar-schriftlichen vorgezogen, letztere werde nur als reproduktiv betrachtet. Demgegenüber will Derrida der Schrift als „Urspur“ vor derartigen Klassifikationen eine eigene Originalität sichern, die das Schicksal, in der abendländischen Metaphysik, immer nur Statthalterfunktion für das gesprochene Wort zu bilden, überwindet (vgl. Derrida 1984).

    Der von Platon bis zur europäischen Aufklärung in der Philosophie vertretene Logozentrismus (die Vernunftgeleitetheit) ist für jede Theorie der Kommunikation von zentraler Bedeutung. Diese Aufassung trifft in der Gegenwart sowohl für Habermas als auch für Luhmann zu. Bei beiden Forschern ist Kommunikation sowohl logozentrisch als auch phonozentrisch gedacht (bei Luhmann sind andere Kommunikationsformen anschlußfähig). Gemeinsamkeit und Differenz ihres Denkens liegt in der Bipolarität von Identität und Differenz, die schon im lógos-Begriff angelegt ist, wobei Habermas eher von Identität, Luhmann von Differenz ausgeht. Insbesondere Habermas’ Bemühen, die ideale Sprechsituation von aller interessengeleiteter „Diskussion“ abzuheben, ist in Analogie zu Platons Unterscheidung von wahrheitssuchendem Gespräch und überredender Rhetorik zu sehen.


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