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mit Hilfe von Wehrmachtseinheiten nach Gotenha-
fen und von dort aus mit dem Schiff gelungen. Sie
wussten aber nichts vom Schicksal ihrer Familien
und meiner Familie.
Zuletzt war ich noch einige Tage zusammen mit
einem oder zwei anderen Kameraden bei dem Mit-
telschullehrer König in der Lüneburger Heerstraße
einquartiert. Meines Wissens diente uns das Schloss
noch für den Aufenthalt am Tage.
Als sich die englischen Truppen der Stadt Celle
näherten, wurde die LBA am 8. April aufgelöst. Alle
Jungen des Jahrganges 1930 – vielleicht nur die
hierher geflüchteten? – erhielten als Marschverpfle-
gung drei Eier und eine Portion Zucker in einem
Weckglas, weil dafür wohl keine anderen Behältnis-
se existierten oder so schnell aufzutreiben waren.
Die älteren Jahrgänge wurden zum Volkssturm her-
angezogen. Wie wir nun zu dritt (?) – und wer wa-
ren die anderen Kameraden des Jahrganges 1930 aus
Pommern, waren es meine Mitbewohner in der
Lüneburger Heerstraße? – an der Allerbrücke auf
eine Mitfahrmöglichkeit in Richtung Eschede warte-
ten, zogen die älteren Schulkameraden mit Panzer-
fäusten bewaffnet in Richtung Wittingen an uns
vorbei, sodass wir uns noch ein letztes Mal zuwin-
ken konnten.
Da kein Fahrzeug kam oder hielt, setzten wir uns
zu Fuß in Marsch. Wohin sollten wir in dieser Situa-
Wohin
jetzt?
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tion eigentlich gehen? Unsere Elternhäuser standen
in dem inzwischen von den Russen eroberten
Pommern. Verwandte hatten wir in dem ständig
bombardierten und hungernden Berlin, keine jedoch
weiter westlich. Aus zwei Gründen entschieden wir
uns für Stralsund: weil sich dort eine Suchstelle des
Roten Kreuzes für Flüchtlinge aus Hinterpommern
befinden sollte und weil wir auf der Bahnfahrt von
Heringsdorf nach Pasewalk dort so hervorragend
schmeckende, mit Schmalz bestrichene und mit
Wurst belegte Brote vom Roten Kreuz bekommen
hatten.
In Eschede meldeten wir uns am Abend zur Über-
nachtung beim Bürgermeister und erhielten auch
einen Schlafplatz. Ob dies ein Notlager in seinem
Kuhstall oder in einem anderen mit Stroh ausgeleg-
ten Bereich war, weiß ich heute nicht mehr.
Die Bahnfahrt nach Stralsund haben wir trotz
einiger Unterbrechungen in relativ kurzer Zeit hinter
uns gebracht. Zunächst fuhren wir auf den Kohlen-
tendern der Lokomotiven, weil die Züge total über-
füllt waren. Als uns aber mehrmals Flugzeuge
überflogen, dachten wir, die Lokomotive könnte
vielleicht das bevorzugte Ziel von Tieffliegerangrif-
fen werden und verkrochen uns deshalb in den
Personenwagen. Bei strahlendem Sonnenschein
liefen wir gegen Mittag in Stralsund ein. Hier erleb-
ten wir auf dem Bahnhof eine Enttäuschung nach
Zuflucht
in Stral-
sund
Die
Nacht in
Eschede
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der anderen. Beim Roten Kreuz gab es die uns einst
so gut schmeckenden belegten Brote nicht mehr und
es existierte auch keine Meldestelle für Flüchtlinge
aus Hinterpommern. Was jetzt tun?
Wir saßen irgendwo in der Nähe des Bahnhofs auf
grünem Rasen, schauten auf Erdarbeiten zur Vertei-
digung der Stadt und beratschlagten. Wir entschie-
den, zur Organisation Todt (OT) zu gehen, die für
solche Schanzarbeiten zuständig war. Aus unserem
Einsatz zum Bau von Befestigungsanlagen um
Schlawe im Herbst letzten Jahres verfügten wir ja
schon über praktische Erfahrungen.
Der zuständige Schachtmeister der OT stellte uns
sogleich als Meldegänger für diese Arbeiten auf
einer langen Strecke ein, nachdem wir ihm von
unserem Schicksal und unseren Motiven berichtet
hatten. Er verschaffte mir auch in dem Hause, in
dem er mit seinem Kameraden – Paris oder Parisius
– wohnte, eine Schlafstätte und sorgte für unsere
Verpflegung. In diesem alten Fachwerkhaus erlebten
wir eines Nachts einen fürchterlichen Fliegerangriff,
der das Gebäude zum Wackeln brachte. Ich stellte
mich in einen Türrahmen in der Hoffnung, so die
größtmögliche Sicherheit zu haben.
Ende April begann dann der russische Angriff bei
Stettin. Das war das schon seit Tagen erwartete
Signal für den Aufbruch der OT-Einheit nach Neu-
münster in Schleswig-Holstein. Ich wurde von den
Flucht
mit der
OT von
Stralsund
nach
Schleswig
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beiden Männern auf einem LKW mitgenommen.
Tiefflieger der Alliierten beschossen uns besonders
hartnäckig am Ortsausgang von Bad Doberan. Hier
bog dann unser LKW in einer scharfen Kurve in
einen unmittelbar angrenzenden Wald ein, in dem
uns ein größerer Holzstoß vor gezieltem Feuer
rettete. Unsere Reise endete dennoch am gleichen
Tage schließlich in Schleswig, wo wir in einem Haus
am Stadtrand Unterschlupf fanden. Schräg gegen-
über hatte sich Max Schmeling einquartiert. Kurz
darauf besetzten englische Truppen an einem der
ersten Maitage die Stadt Schleswig. Ich unternahm
zusammen mit den beiden OT-Männern jetzt zahl-
reiche Hamsterfahrten, für die uns unsere schleswig-
holsteinisches Plattdeutsch sprechende Wirtin mit
hilfreichen Tipps versorgte. Unsere Wege führten
vor allem in geöffnete Marinearsenale. Große Beutel
mit Fleisch schleppten wir ab, ebenso viele neue
Textilien aus Beständen der Wehrmacht. Ich stattete
mich mit einem schönen hellblauen Wollmantel der
Flakhelfer aus und fand auch Gefallen an einem
Offiziersmantel der Marine, der an mir allerdings
reichlich groß ausfiel.
Die Hauswirtin tischte mit einer gewissen Vorliebe
mausgraue Buchweizenklöße mit Sirup für uns auf.
In meinen Erinnerungen hat sie damit keinen Blu-
mentopf gewinnen können.
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