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rand abgedrängten Flüchtlingsfahrzeugen und unter
dem Aufschrei von Angehörigen auseinanderlaufen-
der Familien rannten wir um unser Leben und
gelangten entlang eines Bahndamms am Nachmittag
nach Kolberg. – Bei einer Reise im Jahre 2002 habe
ich diese markante Stelle meiner Erinnerungen
zusammen mit meinem Bruder Rudi wieder aufge-
sucht, wo am Platz der alten Scheune gerade ein
Neubau entstand, das zugehörige Wohngebäude
aber noch in seiner alten Fassade dastand. – Ich lief
eine Strecke in einer Gruppe mit unserem Schulfüh-
rer Dr. Schröder, dem Lehrer Böhm und der Haus-
mutter Zitzmann. Am Anfang dieser Strecke wurde
in der Gruppe auch noch ein mit Gepäck befrachte-
tes Fahrrad geschoben, und auf der Bahntrasse stand
vor einem Zug in Richtung Kolberg noch eine Loko-
motive unter Dampf. Den Hafen, von dem wir per
Schiff zu entkommen hofften, erreichte ich mit noch
ca. 40 Jungen, Lehrkräften und Hauspersonal beim
Abmarsch.
Wir hatten am Hafen schon einige Zeit auf und
zwischen nassen Stapeln von Grubenholz zuge-
bracht und in Richtung des Leuchtturmes auf das
Meer geblickt, als unser Schulführer erschien und
uns mitteilte, dass wir als geschlossene HJ-Einheit
angesehen und auf kein Schiff gelassen würden.
Während nun die Überlegungen, was mit uns weiter
werden solle, noch hin und her gingen, tauchte
Am
Hafen
von
Kolberg
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neben uns eine Funkereinheit auf, die aus einem
Tigerpanzer, zwei Schützenpanzerwagen und einem
LKW bestand. Nach kurzen Verhandlungen mit
unserem Schulführer erklärten sich die Soldaten
bereit, uns auf ihren Fahrzeugen mitzunehmen. Das
Risiko einer Feindberührung sei aber damit verbun-
den, über die einzige noch freie Küstenstraße mit
Einbruch der Dunkelheit zu entkommen und im
Bedarfsfalle dafür auch Waffen und Handgranaten
zu benutzen.
Ich stieg in ein gepanzertes Kettenfahrzeug, und
los ging die Fahrt in den frühen Abendstunden. An
einer verschlammten Stelle – schon der Maikuhle ? –
blieb der LKW oder eines der Kettenfahrzeuge
stecken. Freigezogen von einem der Schützenpanzer
wurde das Fahrzeug wegen Eilbedürftigkeit aber
doch aufgegeben, als es erneut im Morast versank.
Jetzt saßen wir über und über in und auf den Fahr-
zeugen und erreichten spät in der Nacht ein Kaser-
nengelände in dem Ort Kamp, wo die Soldaten des
Wasserfliegerhorstes uns ihre Betten zur Verfügung
stellten. Kaum hatten wir uns niedergelegt und
davon geträumt, am nächsten Morgen mit Wasser-
flugzeugen von hier in den sicheren Westen fliegen
zu können, mussten wir in der Dunkelheit der Nacht
schon zur weiteren Flucht zu Fuß aufbrechen.
Kreuz und quer sind wir dann zu dritt in Richtung
Ostsee gerannt und in wechselndem Tempo in
Von
Kolberg
nach
Kamp
An der
Ostsee
entlang
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Richtung Insel Wollin. Dafür nutzten wir den festen
feuchten Sandstreifen unmittelbar am Ostseeufer.
Bei Tageslicht schauten wir wehmütig einigen tat-
sächlich in unmittelbarer Nähe des Ufers tief fliegen-
den Wasserflugzeugen aus Kamp nach, aus denen
uns der eine und andere Passagier freundlich zu-
winkte. Dieser Anblick erinnerte mich spontan da-
ran, wie uns im Herbst 1939 beim Kartoffelnsam-
meln am Lindenberg mehrere JU 52 in Richtung Po-
len auch so niedrig überflogen, dass wir deren uns
zuwinkende Besatzungen gut erkennen konnten.
Als wir uns nach einiger Zeit nicht mehr in unmit-
telbarer Gefahr vor sowjetischen Verbänden wähn-
ten, zündeten wir umherliegende Handgranaten
und warfen einige vom hohen Ufer in die See. Da
tauchten Soldaten auf und informierten uns über die
Nähe der Front. Bevor wir uns in aller Eile davon-
machten, trennte ich mich hier von meiner Geige.
Vom steilen Ufer warf ich sie in die Ostsee. Weshalb
war ich überhaupt damit bis hierher gelaufen?
Wir liefen ohne Karte in der Gewissheit am Strand
entlang, auf diesem Wege mit Sicherheit zur Insel
Wollin zu gelangen. Gegen Abend des Tages, an
dem mich der Anblick vieler Villen im Strandbereich
sehr beeindruckte, wurde die Situation brenzlig. Der
Geschützdonner verstärkte sich, der Lichtschein von
brennenden Ortschaften erleuchtete den Himmel
und um uns herrschte ein unübersehbares Chaos
Wo wa-
ren wir
über-
haupt?
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von Flüchtenden. Es gelang uns aber, in der Dunkel-
heit auf einen LKW zu steigen, dessen Fahrer rück-
sichtslos versuchte, noch vor Anbruch des nächsten
Tages über eine angeblich schnell errichtete Ponton-
brücke über die Divenow auf die als zunächst sicher
geltende Insel Wollin zu gelangen. Auf seiner an-
fangs beleuchteten Ladefläche des LKW standen
zwei Benzinfässer neben viel Munition. Unter dem
Eindruck der ständigen Hilfeschreie und Detonatio-
nen ringsumher legte ich mir zu Beginn der Fahrt
einen MG-Gurt über die Schulter und setzte mich
auf ein Benzinfass. Sollten wir einen Treffer bekom-
men, so dachte ich, wäre das eine Garantie für einen
kurzen Tod! Der LKW war gar nicht stark besetzt.
Die Flüchtlinge blieben wohl auf ihren Wagen, weil
sie sich von ihren Habseligkeit nicht trennen wollten
und hofften, auch mit ihren Gespannen über retten-
de Pontonbrücke zu gelangen.
Irgendwann rumpelten zu unserer großen Erleich-
terung die Räder aber über die Brücke, und wir
hielten irgendwo auf der Insel Wollin. Von hier aus
wirkte der Feuerschein der Brände im östlichen
Uferbereich der Dievenow noch furchterregender.
Hauptsächlich solle der Feuerschein über dem
brennenden Cammin stehen. Wir beruhigten uns
aber mit der Vorstellung, dass die Russen nicht so
schnell zu einem Sprung auf die Insel ansetzen
würden.
Auf der
Insel
Wollin
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