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Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welch selbst wie-
der das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind.
Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen[31] Wert und Wertgröße analysiert
und den in diesen Formen versteckten
[31] Das Unzulängliche in Ricardos Analyse der Wertröße – und es ist die beste – wird man aus
dem dritten und vierten Buch dieser Schrift ersehn. Was aber den Wert überhaupt betrifft, so un-
terscheidet die klassische politische Ökonomie nirgendwo ausdrücklich und mit klarem Bewußt-
sein die Arbeit, wie sie sich im Wert, von derselben Arbeit, soweit sie sich im Gebrauchswert ih-
res Produkts darstellt. Sie macht natürlich den Unterschied tatsächlich, da sie die Arbeit das ei-
nemal quantitativ, da andremal qualitativ betrachtet. Aber es fällt ihr nicht ein, daß bloß quantita-
tiver Unterschied der Arbeiten ihre qualitative Einheit oder Gleichheit voraussetzt, also ihre Re-
duktion auf abstrakt menschliche Arbeit. Ricardo z. B. erklärt sich einverstanden mit Destutt de
Tracy, wenn dieser sagt: "Da es sicher ist, daß unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten al-
lein unser ursprünglicher Reichtum sind, ist der Gebrauch dieser Fähigkeiten, eine gewisse Art
Arbeit, unser ursprünglicher Schatz; es ist immer dieser Gebrauch, welcher alle jene Dinge
schafft, die wir Reichtum nennen...Zudem ist es gewiß, daß alle jene Dinge nur die Arbeit dar-
stellen, die sie geschaffen hat, und wenn sie einen Wert haben, oder sogar zwei unterschiedliche
Werte, so können sie dies doch nur haben aus dem"(dem Wert)"der Arbeit, der sie entsprin-
gen."(Ricardo,"The principles of Pol. Econ.", 3. ed., Lond. 1821, p. 334.[1*]) Wir deuten nur an,
daß Ricardo dem Destutt seinen eignen tieferen Sinn unterschiebt. Destutt sagt in der Tat zwar ei-
nerseits, daß alle Dinge, die den Reichtum bilden,"die Arbeit repräsentieren, die sie geschaffen
hat", aber andrerseits, daß sie ihre "zwei verschiedenen Wertr"(Gebrauchswert und Tauschwert)
vom "Wert der Arbeit" erhalten. Er fällt damit in die Flachheit der Vulgärökonomie, die den Wert
einer Ware(hier der Arbeit) voraussetzt, um dadurch hinterher den Wert der andren Waren zu be-
stimmen. Ricardo liest ihn so, daß sowohl im Gebrauchswert als Tauschwert sich Arbeit(nicht
Wert der Arbeit) dar-
[1*] Vgl. Destutt de Tracy, "É. émens d'idéologie." 4
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et 5
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parties, Paris 1826, p.35, 36 {95}
Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt,
warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des
Arbeitsprodukts darstellt?[32] Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesell-
schaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den
Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverstänliche Na-
turnot-
stellt. Er selbst aber scheidet so wenig den zwieschlächtigen
Charakter der Arbeit, die doppelt
dargestellt ist, daß er in dem ganzen Kapitel:"Value and Riches, their Distinctive Properties"[1*]
sich mühselig mit den Trivialitäten eines J. B. Say herumschlagen muß. Am Ende ist er daher
auch ganz erstaunt, daß Destutt zwar mit ihm selbst über Arbeit als Wertquelle und dennoch and-
rerseits mit Say über den Wertbegriff harmoniere.
[32] Es ist einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, daß es ihr nie gelang,
aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum
Tauschwert macht, herauszufinden. Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ri-
cardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst
Äßerliches. Der Grund ist nicht allein, daß die Analyse der Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz
absorbiert. Er liegt tiefer. Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allge-
meinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesell-
schaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher
für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das
Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform
usw. Man findet daher bei Ökonomen, welche über das Maß der Wertgröße durch Arbeitszeit
durchaus übereinstimmen, die kunterbuntesten und widersprechendsten Vorstellungen von Geld,
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d. h. der fertigen Gestalt des allgemeinen Äquivalents. Dies tritt schlagend hervor z. B. bei der
Behandlung des Bankwesens, wo mit den gemeinplätzlichen Definitionen des Geldes nicht mehr
ausgereicht wird. Im Gegensatz entsprang daher ein restauriertes Merkantilsystem(Ganilh usw.),
welches im Wert nur die geseschaftliche Form sieht oder vielmehr nur ihren substanzlosen
Schein. – Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie
alle Ökonomie seit W. Petty, die den innern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsver-
hältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zu-
sammenhangs herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phä-
nomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelie-
ferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen
und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten
Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren.
[1*] "Wert und Reichtum, ihre unterscheidenden Eigenschaften"
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wendigkeit als die produktive Arbeit selbst. Vorbürgerliche Formen des gesellschaftlichen Produktio n-
sorganismus werden daher von ihr behandelt wie etwa von den Kirchenväten vorchristliche Religio-
nen[33].
[33] "Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Insti-
tutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutio-
nen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von
Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen,
während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. – Somit hat es eine Geschichte gege-
ben, aber es gibt keine mehr."(Karl Marx,"Misère de la Philosophie. Réponse à la Philosophie de
la Misère de M. Proudhon", 1847, p. 113.[1*]) Wahrhaft drollig ist Herr Bastiat, der sich einbil-
det, die alten Griechen und Römer hätten nur von Roub gelebt. Wenn man aber viele Jahrhun-
derte durch von Raub lebt, muß doch beständig etwas zu rauben da sein oder der Gegenstand des
Raubes sich fortwährend reproduzieren. Es scheint daher, daß auch Griechen und Römer einen
Produktionsprozeß hatten, also eine Ökonomie, welche ganz so die materielle Grundlage ihrer
Welt bildete wie die bürgerliche Ökonomie die der heutigen Welt. Oder meint Bastiat etwa, daß
eine Produktionsweise, die auf der Sklavenarbeit beruht, auf einem Raubsystem ruht? Er stellt
sich dann auf gefährlichen Boden. Wenn ein Denkriese wie Aristoteles in seiner Würdigung der
Sklavenarbeit irrte, warum sollte ein Zwergökonom, wie Bastiat, in seiner Würdigung der Lohn-
arbeit richtig gehn? – Ich ergreife diese Gelegenheit, um einen Einwand, der mir beim Erscheinen
meiner Schrift "Zur Kritik der Pol. ökonomie", 1859, von einem deutsch-amerikanischen Blatte
gemacht wurde, kurz abzuweisen. Es sagte, meine Ansicht, daß die bestimmte Produktionsweise
und die ihr jedesmal entsprechenden Produktionsverhältnisse, kurz "die ökonomische Struktur der
Gesellschaft die reale Basis sei, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebe und
welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprächen", daß "die Produktionswei-
se des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedin-
ge"[2*], – alles dies sei zwar richtig für die heutige Welt, wo die materiellen Interessen, aber we-
der für das Mittelalter, wo der Katholizismus, noch für Athen und Rom, wo die Politik herrschte.
Zunächst ist es befremdlich, daß jemand vorauszusetzen beliebt, diese weltbekannten Redensar-
ten über Mittelalter und antike Welt seien irgend jemand unbekannt gebliegen. Soviel ist klar, daß
das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte.
Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier
der Katholizismus die Hauptrolle spielte. Es gehört übrigens wenig Bekanntschaft z. B. mit der
Geschichte der römischen Republik dazu, um zu wissen, daß die Geschichte des Grundeigentums
ihre Geheimgeschichte bildet. Andrerseits hat schon Don Quixote den Irrtum gebüßt, daß er die
fahrende Ritterschaft mit allen ökonomischen Formen der Gesellschaft gleich ver-
[1*] Siehe Band 4 unserer Ausgabe, S.139 – [2*] siehe Band 13 unserer Ausgabe, S.8/9