R e c h t s k u n d e



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I. TEIL

Einleitung

Ein Baum ohne Wurzeln kann sich im Wind nicht halten. Ähnlich ist es mit den Menschen: Sie brauchen ihre Wurzeln. Auch wenn sie sich derer nicht immer bewusst sind, werden sie von ihnen gehalten. Es gibt keine menschliche Gemeinschaft ohne ihre der jeweiligen Gemeinschaft eigenen Wurzeln. Aus ihren Wurzeln bezieht eine Gemeinschaft ihre Identität. Diese Identität im Gemeinschaftsbewusstsein ist – insbesondere bei dem allerorten anzutreffenden Verlust gesellschaftlicher Normen - das Fundament ihres politischen Handelns. Identität gründet sich nicht auf – naturgemäß: zukünftige - Hoffnung, sondern auf gemeinsam gelebte und erlittene Geschichte. Jede Gemeinschaft ist allerdings auch Fessel ihrer Geschichte. Menschen von ihren Wurzeln abzuschneiden, entwurzelt sie und führt im günstigsten Fall »nur« zu sozialen Unruhen, im schlimmsten Fall zu Krieg.


Darum bezogen auf den Untersuchungsgegenstand »Europa« und dessen mögliche geographische und politische Ausdehnung, seinen »Umfang«, die in diesem Zusammenhang grundlegende Fragestellung: Wie weit reicht »Europa« überhaupt, wenn man versucht, es geographisch, historisch, ideengeschichtlich, kulturell und/oder politisch zu definieren, und welche Kriterien sollen die ausschlaggebenden sein, wenn sich nicht nach allen Kriterien die gleiche Antwort ergeben sollte? Was macht – „back to the roots“ – die verbindende Identität aller der EU angehörenden Staaten, was macht ihre inzwischen teilweise gottlose Kultur- und ihre diffuse Wertegemeinschaft aus?

Die EU strebt neben der Friedenssicherung in Europa eine Mehrung des Wohlstandes ihrer Bürger in einer auf demokratischen Prinzipien basierenden Wertegemeinschaft an, aber als (inner-)europäisches Staatenbündnis mit dem Ziel der weiteren Integration – gleichgültig ob als »Union europäischer Staaten«, »Vereinigte Staaten von Europa«, »Europäischer Bundesstaat«, »Europäischer Staatenbund«, ein »Europa der Regionen« oder als »Differenzierte Integration« - kann die Europäische Union per Definition nicht außer(!)europäische Staaten, selbst nicht solche mit gleichen Zielen und Werten und gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, aufnehmen, da sie sonst nicht mehr europäisch wäre. Kanada und Australien z.B. könnten trotz gleicher Wertorientierung als außereuropäische Mächte nicht Mitglied der Europäischen Union werden. Was aber gehört zu diesem »Europa«?


Ausgelöst wird die aus politischer Rücksichtnahme bislang unterdrückte öffentliche Diskussion nach den Grenzen »Europas«, seiner Identität, Finalität und weiteren Handlungsfähigkeit durch den schon lange bestehenden, aber in den letzten Jahren immer drängender vorgetragenen Wunsch der Türkei, Verhandlungen darüber zu beginnen, als Vollmitglied in die Europäische Union aufgenommen zu werden, dem die verantwortlichen Politiker auf langjährigen und aus sicherheitspolitischen und geostrategischen Überlegungen der USA heraus – NATO-Bündnispartner in unruhiger Weltgegend und Erdöl-Pipelines zur Versorgung der USA - immer wiederholten Druck der USA nicht glaubten widerstehen zu können. Weil sie dem NATO-Partner gegenüber eine klar ablehnende Stellungnahme scheuten und damit bei der Türkei - falsche? - Hoffnungen weckten und Begehrlichkeiten schürten, sitzen sie nun, wo der Schritt von der seit 1963 rhetorisch offen gehaltenen theoretischen Möglichkeit einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - nicht der EU!- bei Durchführung demokratischer Reformen zur Praxis von Beitrittsverhandlungen ansteht, in ihrer durch hinhaltende Herumdruckserei selbst gebastelten Glaubwürdigkeitsfalle. Die Politiker hatten sich darauf verlassen, dass sich der Folterstaat Türkei nie so weit reformieren würde, dass über den Wunsch der Türkei auf Mitgliedschaft in der EU niemals ernsthaft nachgedacht werden müsste. Darum kommt jetzt, nachdem die Türkei sich in atemberaubender Eile durch die Verabschiedung von sieben Harmonisierungspaketen mit 150 Verfassungs- und Gesetzesänderungen ein rechtsstaatliches Kleid geschneidert hat, die bisher ausgeklammerte Türkei-Debatte viel zu spät.

In Deutschland stellten und stellen die Politiker ihre einsame Entscheidung für oder wider einen EU-Beitritt der Türkei nicht zur Diskussion, obwohl es sich um die wichtigste Zukunftsfrage der EU handelt.


Die Türkei leitet einen behaupteten Anspruch auf Mitgliedschaft in der EU(!) u.a. auch aus ihrer langjährigen, seit 1952 bestehenden Zugehörigkeit zum westlichen Verteidigungsbündnis der NATO ab, deren SO-Flanke sie auch im wohlverstandenen Eigeninteresse gegen den Warschauer Pakt der von der Sowjetunion geführten Staaten deckte.

Für meine Argumentation muss ich »aus­schreiben«, was NATO bedeutet, weil ich nicht sicher sein kann, dass jedem klar ist, dass sich hinter dem Begriff NATO eine geographische Abkürzung verbirgt: North-Atlantic Treaty Organisation. Meine Geographiekenntnisse reichen so weit, dass ich sicher weiß, dass die Türkei nicht am Nord-Atlantik liegt; ich gebe aber zu, dass auch Griechenland und Italien nicht am Atlantik liegen. Die liegen dafür aber in Europa. Für die Türkei trifft aber weder das eine, noch das andere zu!

Zur Eindämmung der kommunistischen UdSSR und ihrer kommunistischen Vasallenstaaten haben die USA in der Zeit des Kalten Krieges, der von Anfang an eine militärische Bedrohung auch der Türkei durch die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten beinhaltete, rund um das Gebiet des von der UdSSR beherrschten Warschauer Paktes ein Abwehrbündnis »freier« Staaten geschaffen: im - nach der u.a. Überwältigung Ungarns, Jugoslawiens, Albaniens, Rumäniens, Bulgariens, der Tschechoslowakei und der Baltischen Staaten - offensichtlich zunächst gefährdetsten Bereich Europa 1949 die NATO, der die Türkei zum Schutz des eigenen Staatsgebietes 1952 beigetreten ist; in Asien war es anschließend u.a. 1954 die SEATO, die South-East-Asia Treaty Organisation. Hätten die USA zeitgleich mit der NATO nicht eine SEATO, sondern eine »ATO« als Asia Treaty Organisation geschaffen, wäre die Türkei mit demselben Ziel der Eindämmung des expansiven Kommunismus Mitglied dieser ATO oder eines anders benannten asiatischen Paktes geworden, und dann gäbe es das Problem der aufgedrängten Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht. Aber daran dachte damals in der Zeit des Kalten Krieges noch keiner; vordringlich war aus sicherheitspolitischen Zwängen die Schaffung eines Bündnisses der Staaten, die sich gemeinsam gegen sowjetische Expansionsgelüste schützen wollten. Die dafür erforderlichen Militärbündnisse mussten erst noch geschmiedet werden. So wurde die Türkei wegen ihrer Gefährdung gleich in das erste geschaffene Militärbündnis, die NATO, aufgenommen. Nur wegen der damaligen »falschen« Begriffsbildung und damit der falschen Einordnung der Türkei in das wegen der Größe der Aufgabe mit zeitlichen Verzögerungen geschaffene weltumspannende Verteidigungsbündnis verschiedener Pakte gegen den aggressiven Kommunismus haben wir jetzt das Problem der in die Europäische Union drängenden Türkei, die den europäischen Staaten wiederholt Undankbarkeit vorgeworfen hat, da die Türkei lange die Südostflanke der NATO stabilisiert habe. Hätte die Türkei aber die Westflanke einer gleichzeitig gegründeten »ATO« gesichert, wären die jetzt erhobenen »falschen« Ansprüche an die EU gar nicht entstanden!

Lange militärische Verbundenheit im Kampf gegen den auch die Türkei bedroht habenden Weltkommunismus im ureigensten Interesse der Türkei rechtfertigt jedoch keine Zugehörigkeit zu einer Europäischen Union, denn dann würde mit dem gleichen Argument z.B. auch die vom Gebiet der (früheren ) UdSSR viel weiter entfernteren NATO-Partner USA und Kanada zu der EU gehören müssen; und alle in der SEATO zusammengefassten anderen asiatischen Staaten dazu, die sich aus Eigeninteresse an der Eindämmung der kommunistischen Expansionsgelüste beteiligt haben. Niemand kommt jedoch auf die Idee, das nordamerikanisch Kanada in die Europäische Union aufzunehmen: warum dann aber die vorderasiatische Türkei? Beides sind nichteuropäische Mächte.

Die lange militärische Verbundenheit mag aber eine privilegierte Partnerschaft der asiatischen Türkei zur Europäischen Union rechtfertigen. „Als Freunde sind sie gut, aber als Ehepartner ruinös. All diese Alarmrufe hört man jetzt aus den Hauptstädten in der EU. Die EU sollte eine Entscheidung treffen und entweder ja oder nein sagen. Aber ein Ja sollte auch ja bedeuten. Im Moment wäre ein Nein besser als ein Ja, das in Wahrheit nein bedeutet. Denn ein zweifelhaftes Ja könnte zwischen Ankara und Brüssel mehr zerstören als voranbringen. Ein klares Nein dagegen könnte zu einer besonderen, aber konstruktiven Partnerschaft führen.“ (Ünal, Politikprofessor in Ankara, in: DIE ZEIT 50/2002).
Diese grundsätzliche Diskussion darüber, was »Europa« ist, was seine Identität ausmacht, wo seine Grenzen liegen und welche Staaten demnach zur EU gehören können - und welche eben nicht! -, hatte nicht geführt werden müssen und war (mit einem Seitenblick auf den NATO-Partner Türkei bewusst) nicht geführt worden, als Marokko 1997 beantragt hatte, Mitglied der EU zu werden. Dieses – unsinnigeBegehren war mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass Marokko kein »europäisches« Land sei. Trotz dieser bekannten Begründung für die Ablehnung des marokkanischen Begehrens versucht die seit 1963 mit der damaligen EG, der rein wirtschaftlich ausgerichteten Vorläuferin der erst durch das In-Kraft-Treten des Vertrages von Maastricht 1993 gegründeten politisch sich inzwischen als supranationales Staatenbündnis EU organisiert habende, versucht die mit »Europa« also seit 1963 ausschließlich wirtschaftlich assoziierte Türkei jetzt verstärkt, durch moralischen Druck einen Anspruch auf Aufnahme in die inzwischen umgewandelte politische Gemeinschaft der Europäischen Union erzwingen zu können. Wir halten aber fest: Wenn die Türkei mit einer seit 40 Jahren angeblich genährten Hoffnung auf Mitgliedschaft in der EU argumentiert, dann ist das politische Falschmünzerei! Die argumentativ behauptete Hoffnung der Türkei, die nach 40 Jahren nicht enttäuscht werden dürfe, wenn die EU sich nicht als reiner „Christen-Club“ demaskieren wolle, diese behauptete Hoffnung konnte sich ausschließlich auf eine Mitgliedschaft in der als supranationales Wirtschaftsbündnis konzipierten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beziehen, nicht aber auf eine Mitgliedschaft in der erst dreißig Jahre später gegründeten supranationalen politischen Vereinigung Europäische Union!

Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass insbesondere der CDU-Bundeskanzler Kohl auch nach der Umwandlung der Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der EG in die politische Gemeinschaft EU die Hoffnungen der Türkei auf eine Mitgliedschaft in die gewandelte Gemeinschaft genährt hat, obwohl er laut SPIEGEL 04.10.04 noch 1997 - allerdings in vertraulicher Runde - gespottet haben solle: Ihm sei „aus dem Erdkundeunterricht nicht bekannt, dass Anatolien ein Teil Europas ist“, und einer aus dieser vertraulichen Runde muss spätestens dann doch geplaudert haben, als Kohl der Türkei die konkrete Chance für den EU-Beitritt geöffnet hat.



An diesem vorlauten Wort des „Europabürgers“ Kohl knappst jetzt die CDU, die BRD und die EU.
Die Türkei hatte dann 1987 einen diesbezüglichen Antrag auf Mitgliedschaft in der EG gestellt, der aber 1989 aus politischen Gründen ausweichend ablehnend so beschieden worden war, dass interessierten Kreisen in der Türkei ermöglicht wurde, weiterhin an der Illusion einer grundsätzlichen Zugehörigkeit zu »Europa« festhalten zu können; manche Autoren sprechen sogar davon, „dass die Türkei sich als europäisches Land begreife“. Die politische Feigheit der führenden europäischen Politiker, aus der heraus bei den Türken weiterhin die Illusion genährt worden war, eine demokratisch reformierte Türkei sei ein ebenso integraler Bestandteil »Europas« wie z.B. die damals (auch?) noch nicht zur EU gehörenden Länder Finnland, Schweden und Österreich, die erst 1995 zur EU hinzugekommen sind, oder Polen und die baltischen Staaten, die ab 01.05.04 dazugehören, statt der Türkei gegenüber ein ebenso klares Wort zu sprechen wie gegenüber Marokko – „Die Türkei ist kein europäisches Land“ -, diese politische Feigheit schlägt jetzt auf uns alle zurück. Der Türkei gegenüber wurde als offizielle Begründung der Ablehnung nur mitgeteilt: Die Türkei sei nicht hinreichend demokratisch verfasst und auf jeden Fall in ihren Strukturen nicht so durchorganisiert, dass die Wahrung der Menschenrechte in dem (wenigstens damaligen) Folterstaat Türkei gewährleistet sei. Neben der bis heute(!) bestehenden Demokratieschwäche der staatlichen türkischen Institutionen - als Beleg hierfür wird zum Schluss dieser Ausarbeitung aus dem 2004 in 2. Auflage publizierten Aufsatz von Rumpf und Steinbach „Das politische System der Türkei“ zitiert - und den ständigen Menschenrechtsverletzungen bis hin zu durchgängig angewandter staatlicher Folter wurden des Weiteren die wirtschaftliche Rückständigkeit mit Inflationsraten bis über 300 %, die Diskriminierung der (von den Türken aus dem von Mustafa Kemal, genannt Atatürk, definierten Staatsverständnis heraus geleugneten) völkischen Minderheit der Kurden, die Leugnung des zuletzt 1915/16 im großen Stil begangenen Völkermordes der Türken an ca. 1,5 Mill. Armeniern - wodurch zwei Drittel der Armenier der „Aghet“ (arm.: Tat des Fremden, die ins Innere dringt und alles zerstört) zum Opfer fielen und die Überlebenden sich praktisch zur Auswanderung in hauptsächlich die USA und Frankreich gezwungen sahen, um das eigene Leben zu retten -, und der große politische Einfluss des Militärs angesehen, wobei letzteres Argument zwiespältig empfunden wurde: einerseits ist das Militär von der Verfassung her als Wahrer der auf eine Zivilgesellschaft in einer pluralistischen Demokratie abzielenden kemalistischen Reformen bestimmt worden und hat die mehrfach drohende Umwandlung des Charakters der Türkei in einem islamistischen Staat verhindert, andererseits kann sich keine demokratische Gesellschaft mit dem Primat ihres Militärs gegenüber der Politik abfinden, immer - und davon kann es keine Ausnahme geben - muss in einem demokratisch organisierten Staat »die Politik« den Primat gegenüber ihren Streitkräften behalten!
Seit 1996 besteht zwischen der EU und der Türkei als einzigem Nicht-Mitgliedsland eine Zollunion, die das Land wieder einen Schritt näher an die EU heranführte (und an der Syrien durch Abschluss eines Sondervertrages mit der Türkei teilhaben will). Als die (fast vollständig) islamische Türkei aus (auf der Kalifats- und Sultanatsidee des Osmanischen Reiches der Hohen Pforte fußender) Jahrhunderte lang geübter Tradition als Schutzmacht der Muslime heraus im Rahmen der NATO mit einem großen Truppenkontingent geholfen hatte, den Völkermord im Kossovo-Krieg des zerfallenen ehemaligen Jugoslawien zu beenden, weil sie sich als »Schutzmacht« gegenüber den von den orthodoxen Serben angegriffenen albanischen Glaubensbrüdern empfand (und sie nach mir gegenüber von mehreren Türken in Deutschland persönlich gemachter Aussage gerne aus alten Hassgefühlen den Serben gegenüber militärisch gegen die Serben angetreten wäre und eine alte, angeblich als noch offenstehend empfundene Rechnung beglichen hätte), erfolgte 1999 auf massiven Druck der USA hin, dem sich die europäischen Regierungen nicht ausreichend widersetzten, das Angebot, die Türkei als Beitrittskandidat zur EU zu betrachten. Als Vorstufe wurde 2001 zur Unterstützung der in der Türkei initiierten Reformen zur Demokratisierung des Landes zwischen der EU und der Türkei eine „Beitrittspartnerschaft“ geschlossen. Seitdem drängt die Türkei – aus ihrer Position heraus nur allzu verständlich - auf den Beginn konkreter Beitrittsverhandlungen: wohlwissend und in Diskussionen auch offen an- und ausgesprochen, dass dadurch faktisch ein Beitrittsautomatismus in Gang gesetzt wird, denn bisher wurden noch nie Beitrittsverhandlungen aufgenommen, ohne dass es letztlich zu einem Beitritt gekommen wäre. Auf das Drängen der Türkei hin entschied die EU im Dezember 2002 auf ihrem Kopenhagener Gipfel – wieder auf massiven Druck der USA hin(!) - Ende 2004 zu prüfen, ob die wirtschaftlichen und insbesondere die politischen Kriterien für eine grundsätzlich gewollte, nicht mehr in Frage gestellte Mitgliedschaft erfüllt seien. Der EU-Erweiterungkommissar Verheugen hatte bis zum 06.10.04 einen dementsprechenden „Reform-Fortschrittsbericht“ vorzulegen. Auch wenn der Beitrittskommissar Verheugen in der aktuellen politischen Diskussion vor der im Juni 2004 stattfindenden Europawahl tapfer behauptete (und der Öffentlichkeit etwas vormachend sich selber in die Tasche log!), dass Beitrittsverhandlungen nicht zwangsläufig zu einem Beitritt führen müssten, so weiß doch »jeder«, dass die Ablehnung eines Beitritts durch die EU am Ende der Beitrittsverhandlungen von der Türkei als schwere politische Kränkung empfunden würde – aus der Zusage auf die Perspektive einer wirtschaftlichen Verbundenheit mit Europa wurde von der Türkei geschickterweise eine Frage der nationalen politischen Ehre gemacht -, die niemand riskieren will! In diesem mit einer „Merkel-Klausel“ („unabhängig vom Ausgang der Beitrittsverhandlungen sei ein System zu finden, das die Türkei fest in den europäischen Strukturen und der atlantischen Partnerschaft verankert. Damit schließe das Konzept, …, auch die ’privilegierte Partnerschaft’ nicht aus; SPIEGEL 04.10.04) und anderen Sicherungen versehenen Bericht wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Erste konkrete Auswirkung: Die Türkei wird an der Zeremonie zur feierlichen Unterzeichnung der EU-Verfassung am 29. Oktober in Rom teilnehmen und dort zusammen mit den 25 Mitgliedsstaaten der EU sowie den beiden anderen Noch-nicht-Mitgliedsländern Bulgarien und Rumänien das Vertragswerk unterzeichnen (DIE WELT 11.09.04). Damit, heißt es in Brüssel, werde die EU-Mitgliedschaft der Türkei "politisch präjudiziert".

Das Nicht-Mitgliedsland Türkei wird die EU-Verfassung also unterzeich­en, bevor am 17.12.04 durch Beschluss der EU-Regierungschefs endgültig geklärt ist, ob es Beitrittsverhandlungen gibt! Ein politisch und juristisch unerhörter Vorgang: Was hat das asiatische Nicht-Mitglied dort zu suchen???!!!???

Wenn sich ein Verein eine Satzung gibt, dann können nur (einige) Vereinsmitglieder das beim Amtsgericht einzureichende Protokoll unterschreiben, auf jeden Fall aber keinesfalls Nicht-Mitglieder, die zufällig gerade zur selben Zeit der Gründungssitzung in derselben Kneipe sitzen. Das würde kein Amtsgericht durchgehen lassen!!!


Dankenswerterweise hat der türkische Ministerpräsident Erdogan am 03.10.04 vor Erscheinen des „Reform-Fortschrittsberichts“ anlässlich seines Besuches in Berlin öffentlich klargestellt, dass für ihn „ergebnisoffene“ Gespräche nicht in Frage kommen: Es gehe nur noch um das „Wann“ des Beitritts! In einem SPIEGEL-Interview vom 04.10.04 erklärte er auf die entsprechenden Fragen der Redakteure u.a.: „Das einzige Verhandlungsziel, das wir akzeptieren, ist die Vollmitgliedschaft. Es gibt keinen dritten Weg für uns, keine Partnerschaft unter Bedingungen oder dergleichen. So etwas auch nur ins Gespräch zu bringen, ist unseriös. Natürlich liegt es im Wesen einer Verhandlung, dass man bedingungslos über alle anstehenden Fragen spricht, über alle Parameter, die zur Erfüllung der Kopenhagener und der Maastricht-Kriterien nötig sind. Es geht um die gesetzlichen Vorgaben und inwieweit wir sie praktisch umsetzen. Wenn am Ende alle Mitglieder der Union die Kriterien als erfüllt ansehen, dann werden wir Vollmitglied. Ein anderes Verhandlungsziel gibt es nicht. ... Die Türkei ist auf dem Weg, ein EU-Mitglied zu werden - und dieser Weg ist unumkehrbar. In den Verhandlungen werden die Bedingungen geklärt, die wir im Augenblick noch nicht erfüllen, aber nicht die Frage, ob wir überhaupt Vollmitglied werden oder nicht. ... Und ich wünsche mir, dass am 17. Dezember darüber das letzte Wort gesprochen wird. Wenn die Europäische Union eine politische Union sein soll und kein christlicher Club, wenn die Union das Ziel hat, die Zivilisationen zusammenzuführen, dann muss die Türkei ein Teil dieser Union sein.“
Wieso???

Die Türkei verlässt sich dabei auf das, was im deutschen Verwaltungsrecht auf der Grundlage des allgemeinen Gleichheitssatzes unter dem Gesichtspunkt der „Selbstbindung der Verwaltung durch vorgängiges Verwaltungshandeln“ das Anrecht auf einen das Begehren eines Bürgers begünstigenden Verwaltungsakt begründet, um so Verwaltungswillkür zu unterbinden. Der schon von dem größten Gelehrten der Antike mit Wirkung in die Neuzeit, Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), aufgestellte - und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Rechtsprechung immer berücksichtigte - Gleich­heitsgrundsatz verlangt, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entspre­chend ungleich zu behandeln. Andersherum ausgedrückt ist es dem Staat also verboten, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln. Das Gleichbehandlungsgebot gilt zwar (zunächst) nur für inländisches Verwaltungshandeln, muss bei analoger Anwendung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes auf supranationale Problemlagen aber auch für die handelnden Organe einer supranationalen Staatengemeinschaft gelten.



Bei einer analogen Anwendung dieses Grundsatzes auf das Beitrittsbegehren der Türkei wird jedoch von allen Seiten geflissentlich übersehen – von den Institutionen der EU vermutlich aus politischer Feigheit heraus, von der Türkei wegen des Wunsches nach lukrativer Mitgliedschaft zur Behebung ihrer wirtschaftlichen Probleme -, dass der Gleichheitssatz zwar verlangt, „Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln“, die Türkei aber nicht so »gleich« gesehen werden kann wie z.B. das mit dem Beitritt zum 01.05.04 abgeschlossene Beitrittsbegehren Polens und Ungarns oder der anderen Staaten, die ja unbezweifelbar europäische Staaten sind und – das gilt für die Mittelost- und Osteuropa-Staaten (MOE-Staaten) des nach dem Zweiten Weltkrieg von der UdSSR beherrschten Ostblocks - nach der Überwindung des Kommunismus wieder »zum Westen« gehören wollen.

Bei der – wie nachfolgend noch im Einzelnen begründet wird - asiatischen Türkei ist dieser Status wegen ihres in Europa hineinragenden dreiprozentigen Gebietszipfels zumindest zweifelhaft, nach hier vertretener Auffassung jedoch eindeutig zu verneinen. Und wie das Beitrittsbegehren des afrikanischen Marokkos mit der Begründung abgelehnt wurde, Marokko sei kein europäisches Land, so müsste das Beitrittsbegehren der asiatischen Türkei unter Zugrundelegung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes ebenfalls zwangsläufig zu einer Ablehnung mit derselben Begründung führen! Wenn man sich denn politisch traute.


Es wäre falsch zu sagen, »man« hätte vor oder bei Abgabe des Angebotes zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vergessen zu überlegen, ob die asiatische Türkei überhaupt in die Europäische Union aufgenommen werden könnte; wahr ist vielmehr, dass man aus politischer Rücksichtnahme und Feigheit die erforderliche Diskussion nicht hatte führen wollen. Man hatte vorher schon den Mund zu weit aufgerissen ohne sich die langfristigen Folgen genau überlegt zu haben und mochte das nun nicht eingestehen. Und nun besteht für die EU die Zwangslage, dass einerseits viele Politiker glauben, auf der zur Vollmitgliedschaft der Türkei führenden abschüssigen Bahn aus politischer Rücksichtnahme nicht mehr umkehren zu können, dass andererseits aber die in Gang gesetzte politische Fehlentwicklung damit perpetuiert wird, obwohl man spürt, ahnt oder weiß, dass die asiatische Türkei kein Mitglied in der Europäischen Union werden sollte.
Wenn die meisten Politiker ein Gespür für die richtige Antwort auf die Frage nach einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU leugnend »wegdrücken«, so scheinen die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland es – vermutlich wegen des größten türkischen Bevölkerungsanteils in einem europäischen Land - aber mehrheitlich(?) zu haben. Vielleicht wegen dieses in der Bevölkerung vorhandenen, von den Politikern aber gefürchteten »gespürten Wissens« wird ihnen eine Volksabstimmung über diese wichtige Frage – mit u.a. der hergesuchten formalistischen Begründung, dass Volksabstimmungen in der deutschen Verfassung nicht vorgesehen seien und dass es über diese Problematik bisher noch nie eine Volksabstimmung gegeben habe, was ja richtig ist, aber bisher sollte ja auch noch nie ein außereuropäisches Land in die EU aufgenommen werden(!) – verweigert. Statt politischer Mitentscheidung der Bürger in dieser Frage scheint die öffentliche Meinung mit zweifelhaften Ergebnissen demoskopischer Umfragen manipuliert zu werden! Ein schwerwiegender Verdacht, gewiss, aber er scheint nicht unbegründet: Es müsste nicht nur jeden Fachlehrer für Politik verwundern, dass sich im Februar 04 ungefähr vier Monate vor der Wahl zum Europaparlament am 13. Juni 2004 mit dem Konfliktthema einer irgendwann zur Entscheidung anstehenden Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU zwei Umfragen mit annähernd gleicher Fragestellung um mehr als die tolerierbaren 3 % Umfrageungenauigkeit unterschieden:
SPIEGEL 21.02.04: „Die Türkei bewirbt sich um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sollte die Türkei Ihrer Meinung nach mittel- bis langfristig in die EU aufgenommen werden?“

TNS Infratest (1.000 Befragte) vom 16./17.02.04 für den SPIEGEL: Ja = 54 % / Nein = 37 %


STERN 26.02.04: „Soll die Türkei in die EU aufgenommen werden?“

Forsa (1.005 Befragte) vom 19./20.02.04 für den STERN: Ja = 38 % / Nein = 57 %


Da die Gesetze der Mathematik parteipolitischen Manipulationen entzogen sind und somit die mathematisch-statistischen Methoden der Aufbereitung der durch die Befragung vor Ort erhaltenen Rohdaten gleich sind, sollten sich die Ergebnisse der im annähernd gleichen Zeitraum vorgenommenen Umfragen renommierter demos­kopischer Institute bei annähernd gleicher Fragestellung wegen unterschiedlicher Gewichtungsfaktoren maximal nur in einem Toleranzbereich von 3 % unterscheiden. (Sie müssen damit aber trotzdem nicht den realen Gegebenheiten entsprechen, wenn die Befragten zuvor keine ehrlichen Antworten gegeben hatten!) 16 bis 20 Prozent Differenz bei den hochgerechneten Ergebnissen der Befragungen für Zustimmung oder Ablehnung einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU: Das darf nicht sein! Des üblichen »Befragtenschwindels« ungeachtet – bei »kitzligen« Fragestellungen (z.B. nach mehr oder minder verdeckt rechtsradikalen Einstellungen) geben Befragte halt nicht immer ihre wahre Meinung preis - sollten die im annähernd gleichen Zeitraum vorgenommenen, nicht durch politische Ereignisse in besonderer Weise unterschiedlich berührten Antworten auf annähernd gleiche Fragestellungen und die Ergebnisse der aus diesen erhobenen Rohdaten ermittelten Hochrechnungen der Umfrageergebnisse annähernd gleich sein, weil man davon ausgehen kann, dass die auf der Straße stehenden oder am Telefon hängenden Befrager unterschiedlicher Institute von den Befragten gleichermaßen angeschwindelt werden.

Solche nicht tolerablen Abweichungen bei annähernd gleicher Ausgangslage der Befragungen machen die Demoskopie noch suspekter, als sie manchen schon ist. Churchill meinte spöttisch: „Ich glaube nur an die von mir selbst gefälschten Statistiken.“ Und ein Spruch, den ich an einem Regal des Statistischen Landesamtes Hamburg entdeckte: „Die Statistik ist wie ein Bikini: Was sie zeigt, ist verwirrend – aber die Hauptsache verbirgt sie.“


Einen Monat vor der Wahl zum EU-Parlament 2004 publizierte der STERN eine erneute Forsaumfrage:

STERN 09.06.04: „Sind Sie die Aufnahme der Türkei in die EU?“

Forsa (1.005 Befragte) vom 24./25.05.04 für den STERN: Ja = 45 % / Nein = 54 %, von denen sich 20 % zwar gegen die Aufnahme in die EU, aber für eine privilegierte Partnerschaft aussprachen.
Weil den Bürgern eine direkte Mitentscheidung in der Frage einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU verweigert wird, ist es nur legitim, dass diese Frage in jedem anstehenden Wahlkampf problematisiert wird und der Wahlbürger seine Wahlentscheidung danach trifft, welche Partei sich für oder gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ausspricht und damit die Meinung des einzelnen Wahlbürgers in einer für ihn äußerst wichtigen Frage vertritt: Wenn nicht zur Wahl, wann kann dann der anders nicht gefragte oberste Souverän seine Meinung zu dieser für die EU vielleicht überlebenswichtigen Frage entscheidungs­­erheblich zum Ausdruck bringen?



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