Rudolf steiner



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weiter fortbestehen könnte, was in der geistigen Welt zerfallen würde
und was zu einem Leiblichen hinläuft, damit es sich weiter erhalten
kann.

So daß man also, wenn man es nun schematisch zeichnen will,


etwa so zeichnen müßte: Das Geistig-Seelische (rot von links) steigt
aus der geistig-seelischen Welt herab. Es ist, man möchte sagen, in
einer Sackgasse angekommen; es kann jetzt nicht weiter, es muß sich

mit physischer Materialität ausstatten (blau). Aber die physische Ma-


terialität wirkt eigentlich nur so, wie ich es jetzt eben beschrieben
habe, vom Gehirn aus, nicht vom übrigen Menschen aus. Vom übrigen
Menschen aus geht doch wieder das Geistig-Seelische, das sich gewis-
sermaßen dadurch erholt, daß es vom Gehirn nicht durchgelassen
wird, daß es im Gehirn eine Widerlage, eine Unterstützung hat. Da-
durch wird es dem Geistig-Seelischen wiederum möglich, nun doch
durch die übrige menschliche Organisation, also namentlich durch die
Gliedmaßen-Stoffwechselorganisation, sich selber sich entgegenzustel-
len (rot rechts). Man könnte also sagen: Was ich hier blau gezeichnet
habe, das ist die Kopforganisation. Hier ist dann die Gliedmaßen-
Stoffwechselorganisation (gelb); die saugt zwar im normalen Zustande
das Seelisch-Geistige auf, aber doch nur bis zu einem gewissen Grade.

Schon indem wir von Kindheit aufwachsen, kommt eigentlich das Gei-


stig-Seelische immer wieder zum Vorschein. In dem Momente, wo der
Mensch konzipiert wird, und während er ein Embryo, ein Keim im
Leibe der Mutter ist, wird gewissermaßen das ganze Geistig-Seelische,
das aus der geistig-seelischen Welt herunterkommt, untergetaucht in
das Materielle. Aber dadurch, daß es eine Stütze bekommen hat, die-
ses Geistig-Seelische, erholt es sich wiederum. Der Embryo hat die
Form, die das schon äußerlich zeigt: zunächst die Kopforganisation,
da findet das Geistig-Seelische eine Stütze (siehe Zeichnung). Dann
setzt sich die übrige Organisation an; da quillt schon das Geistig-
Seelische wiederum durch - das habe ich hier schematisch gezeichnet.
Indem wir nun als Kind heranwachsen, da wird immer wieder das

Geistig-Seelische selbständig, beim Kinde noch nicht so stark, aber


immer mehr und mehr wird das Geistig-Seelische selbständig. Ich habe
ja, indem ich die Entwickelung des Kindes beschrieben habe, dies im
einzelnen ausgeführt; auch wie dieses Geistig-Seelische dann bei den
großen Ubergangspunkten, beim Zahnwechsel und bei der Ge-
schlechtsreife, immer selbständiger und selbständiger wird. So daß
wir, indem wir als Mensch heranwachsen, immer mehr das Leiblich-
Physische zurücktreten lassen und ein selbständiges Geistig-Seelisches
bekommen. Dieses Selbständige ist beim heutigen Menschen intensiver

als beim älteren Menschen. Aber es könnte doch nicht denken. Es


braucht eben, wie ich sagte, den Leib zur Hilfe, wenn es denken will.
Sonst bliebe gerade auch das, was dann an uns heranwächst, immer
traumhaft.

So kann man also sagen: Der ältere Eingeweihte suchte, das Gehirn


durchlässig zu machen, so daß das frühere Geistig-Seelische, das da
herunterstieg, für ihn noch durchquillen konnte, daß er also gewisser-
maßen das vorgeburtliche Leben noch wahrnahm durch das ver-
weichte Gehirn. Der neuzeitliche Eingeweihte, der reflektiert nicht
darauf, sondern der reflektiert auf das, was sich im Laufe des Lebens
herausbildet. Das erweckt er zu einer höheren Intensität nach der Ge-
dankenseite hin. Der ältere Eingweihte hätte das nicht gekonnt. Der
hätte das, was sich beim Kinde in dumpfer Weise als das neue Geistig-
Seelische entwickelt, was dann später durch die Todespforte geht,
nicht so stark anfassen können. Er tötete daher gewissermaßen das
Leibliche ab, er lahmte es herunter, damit das alte Geistig-Seelische
herauskam, das früher war, bevor er konzipiert beziehungsweise emp-
fangen worden war.

Heute fassen wir dasjenige, was wir in schwacher Weise durch die


Kindheit bis zum Erwachsensein entwickeln, stärker an, so daß wir
also das, was sich seit der Geburt als das neue Geistig-Seelische ent-
wickelt, erkraften, verstärken. Dadurch versuchen wir ein selbstän-
diges Geistig-Seelisches gegenüber dem Leibe nach der Gedankenseite
hin zu bekommen. Während also der alte Eingeweihte das vorgeburt-
liche Geistig-Seelische durch die Herabdämpfung des Leibes offenbar
machte, versuchen wir offenbar zu machen, was sich nach der Geburt
als Geistig-Seelisches immer mehr und mehr herausentwickelt; aber
wir machen es nicht bis zu der Stärke offenbar, in der wir es gebrau-
chen, um selbständig die geistige Welt wahrzunehmen. Das ist der
Unterschied.

Nach der Willensseite hin ist es so: Der alte Eingeweihte versuchte,


wie gesagt, die Willensorganisation erstarrt zu machen. Dadurch
wurde das Geistig-Seelische, das sonst durch die Willensorganisation
aufgesogen wird, für ihn wiederum wahrnehmbar, also dasjenige, was
da war vom Vorgeburtlichen. Wenn der Körper erstarrt ist, so saugt

er eben nicht das Geistig-Seelische auf; dadurch wird es in seiner


Selbständigkeit offenbar. Das machen wir wiederum nicht als mo-
derne Eingeweihte, sondern da wird anders vorgegangen. Da wird
nun wiederum der Wille verstärkt, indem die Kraft des Wollens in
der Weise, wie ich das in den genannten Büchern dargestellt habe, um-
gewandelt wird. Es wäre ganz falsch, wenn durch Schocks, durch
Angstzustände, durch Schreckzustände, wie beim alten Eingeweih-
ten, kataleptische Zustände herbeigeführt würden. Das würde beim
modernen Menschen mit seiner stark entwickelten Intellektualität
ganz und gar ins pathologische Gebiet gehören. Das darf also nicht
sein. Dagegen wird zum Beispiel durch Rückwärtsübungen - wo man
gewissermaßen nicht vorwärts vorstellt, sondern, wie bei der Rück-
schau, die Tageserlebnisse von rückwärts nach vorn, vom Abend zum
Morgen durchnimmt - oder auch durch andere Willensübungen, der
Wille umgewandelt in einer Weise, die ich etwa so charakterisieren
kann: Betrachten Sie das menschliche Auge. Wie muß es denn gestal-
tet sein, damit wir sehen können? Wenn wir starkrank werden, macht
sich die Materie des Auges selbständig geltend. Das Auge kleidet sich
aus mit Materie, die dann undurchsichtig wird. Das Auge muß
selbstlos sein, selbstlos in den Organismus eingefügt sein, wenn wir es
zum richtigen Sehen brauchen wollen, es muß durchsichtig sein. Un-
ser Organismus ist für den Willen durchaus nicht durchsichtig. Ich
habe es Ihnen ja öfter dargestellt. Wir können einen Gedanken haben,
sagen wir, daß wir den Arm, die Hand erheben wollen. Wir fassen
den Gedanken: Ich will den Arm, die Hand erheben. - Aber was
dann geschieht in unserem Organismus, indem dieser Gedanke hin-
überschießt in den Organismus und die Ausführungen macht, das ist
ebenso in Dunkel gehüllt wie die Ereignisse, die zwischen dem Ein-
schlafen und dem Aufwachen vor sich gehen. Wir sehen erst wie-
derum den erhobenen Arm, die erhobene Hand. Also wir haben wie-
derum eine Vorstellung. Anfangsvorstellung und Endvorstellung
schließen sich zusammen; was in der Mitte drinnen liegt, das ist ein
Schlafzustand. Der Wille entfaltet sich so im Unbewußten für den
Menschen, wie sich die Ereignisse des Schlafes im Unbewußten ent-
falten. Wir können ganz gut sagen: In bezug auf das Durchschauen

des Willens ist unser Organismus undurchsichtig für das gewöhnliche


Bewußtsein, wie ein starkrankes Auge undurchsichtig wäre.

Selbstverständlich will ich nicht sagen, daß der menschliche Orga-


nismus deshalb krank sei. Er muß eben so undurchsichtig sein für das
gewöhnliche praktische Leben. Das ist sein normaler Zustand. Aber
für die höhere Erkenntnis kann er so nicht bleiben, da muß er durch-
sichtig werden, seelisch-geistig durchsichtig. Das geschieht eben durch
die Willensübungen. Der Organismus wird so, daß wir ihn durch-
schauen können, daß wir also nicht mehr in ein Unbestimmtes hinun-
terschauen, wenn der Wille sich entfaltet, sondern er wird so selbstlos,
wie das Auge in seiner Substantialität selbstlos in den Organismus
eingesetzt ist, damit wir die äußeren Gegenstände richtig sehen. Wie
das Auge selbst durchsichtig ist, wird der Organismus geistig-seelisch
durchsichtig, wird der ganze Organismus ein Sinnesorgan. Dadurch
nehmen wir nach der Willensseite hin objektiv die geistigen Wesen-
heiten wahr, wie wir durch das äußere Auge die äußeren physischen
Gegenstände wahrnehmen. Also die Willensübungen gehen bei uns
nicht darauf aus, den Körper zu erstarren, damit das Geistig-Seelische
frei werde, sondern sie gehen darauf aus, das Geistig-Seelische so zu
entwickeln, daß es durch das Körperliche hindurchschauen kann. Das
ist das Wesentliche. Man sieht in die geistige Welt nur hinein, wenn
man durch sich selber hindurchschaut. So wie man die äußeren Gegen-
stände, die man sieht, durch das Auge nur sieht, indem man durch das
Auge durchschaut, so sieht man in die geistige Welt nicht direkt hin-
ein, sondern indem man durch sich selber durchschaut.

Das ist die andere Seite, die Entwickelung nach der Willensseite.


Also die ganze Entwickelung beruht in der neueren Zeit darauf, daß
man erstens das Denken erstarkt, so daß es unabhängig wird vom
Gehirn, und zweitens, daß man den Willen so gestaltet, daß der ganze
Mensch durchsichtig wird. Man kann nicht durch das Blitzblaue in
die geistige Welt hineinschauen, ebensowenig wie man ohne das Auge
in die Farbenwelt hineinschauen kann. Man muß durch sich durch-
schauen. Das aber geschieht durch die Willensübungen.

Da haben Sie jetzt für den modernen Menschen, was eben durch


die Initiation ausgeführt werden kann. Es kann sowohl nach der Ge-

dankenseite hin das Seelisch-Geistige unabhängig gemacht werden von


dem Leiblichen, wie der Leib in seiner Materialität überwunden wird,
indem er geistig-seelisch durchsichtig wird. Dadurch haben Sie das
durch seine eigene Kraft selbständig gewordene Geistig-Seelische ge-
geben. Das ist der große Unterschied zwischen der alten und der
neuen Einweihung. Die alte Einweihung veränderte den Leib, änderte
ihn nach der Gehirnseite, nach der Seite des übrigen Organismus, und
dadurch, daß der Leib verändert wurde, wurde das Seelisch-Geistige
in einer dumpfen Weise wahrnehmbar. Die moderne Einweihung ver-
ändert das Geistig-Seelische, macht es in sich stärker nach der Ge-
dankenseite und nach der Willensseite hin und macht es dadurch auf
der einen Seite vom Gehirn unabhängig, auf der ändern Seite so stark,
daß es durchschaut durch den Organismus.

Das bedingt allerdings, daß der alte Eingeweihte das, was er wahr-


nehmen konnte, gewissermaßen gespensterhaft sah. Es trat, nachdem
die entsprechenden Prozeduren abgelaufen waren, gespensterhaft das
auf, was sich als das Wesenhafte der geistigen Welt offenbaren konnte.
Man sah die geistige Welt, ich möchte sagen, in ätherischen Gebilden.
Und die große Sorge der Lehrer der alten Mysterien war die, daß die
Schüler, trotzdem sie die Wahrnehmungen aus der geistigen Welt her-
aus gespensterartig sahen, lernten, von dem Gespensterartigen abzu-
sehen. Immer wieder und wieder gingen die Ermahnungen der Lehrer
der alten Mysterien dahin, den Schülern klarzumachen: Ihr seht
etwas, was wie materiell aussieht, aber ihr müsset das wie Bilder an-
schauen. In dem, was ihr seht, in diesem Gespensterhaften, habt ihr
nur die Bilder der geistigen Welt. Ihr müßt nicht glauben, daß ihr in
dem, was ihr da gespensterartig um euch herum seht, die wahre Wirk-
lichkeit habt -, wie ja auch der Kreidestaub auf der Tafel, wenn ich
etwas aufzeichne, nicht die Wirklichkeit ist, sondern das, was abgebil-
det wird. - Natürlich sagte man das nicht mit solchen Worten, aber in
modernerer Art könnte man es so ausdrücken. Das war die große Sorge
der alten Mysterien, daß die Schüler nicht das für Wirklichkeit hiel-
ten, was sie da traumhaft gespenstig sahen, sondern daß sie es als Bil-
der hinnahmen.

In der modernen Einweihung hat man eine andere Sorge. Da

kommt man überhaupt nur zum Erkennen der höheren Welt, in-
dem man durch die imaginative Erkenntnis schreitet. Da lebt man
also in einer Welt von Bildern; da sind die Bilder von vornherein in
ihrem Bildcharakter da. Also der Verwechslung ist man nicht aus-
gesetzt, man hat zunächst einen Bildcharakter. Aber daß man diese
Bilder in der richtigen Weise beurteilen kann, daß man weiß, wie
man diese Bilder auf die geistige Realität zu beziehen hat, das muß
man dadurch erreichen, daß man das exakte Denken, das man sich
angeeignet hat als moderner Mensch, nun auf die Bilderwelt anwen-
det, daß man wirklich in dieser Bilderwelt denkt, wie man denken
gelernt hat in der gewöhnlichen physischen Welt. Jedes gedankenlose
Anschauen ist für die moderne Initiation von Schaden. Es muß alles
das, was man an gesundem Denken als moderner Mensch entwickelt
hat, in die höhere Erkenntnis hineingetragen werden. So wie man
sich in der gewöhnlichen physischen Welt orientieren kann, wenn
man ordentlich denken kann, so kann man sich erst recht in der Welt
des Geistes, in die man durch die moderne Initiation eintritt, nur dann
orientieren, wenn man alles das, was man durch imaginative, inspi-
rierte, intuitive Erkenntnis erlangt, in der richtigen Weise mit dem
Denken zu durchsetzen vermag, das man sich hier in der physischen
Welt angeeignet hat. Ich habe ja das in meiner «Theosophie», wie in
meiner «Geheimwissenschaft» und auch in «Wie erlangt man Erkennt-
nisse der höheren Welten?» immer mit völliger Deutlichkeit ausge-
sprochen als ein Charakteristikon der modernen Einweihung.

Deshalb ist es auch so notwendig, daß jeder, der in dem neueren


Sinne in die höheren Welten eindringen will, wirklich exakt denken
lernt und sich im exakten Denken übt. Das ist nämlich nicht so leicht,
wie die Menschen sich es vorstellen. Ich will, um das, was ich eigent-
lich meine, verständlich zu machen, folgendes sagen: Denken wir ein-
mal etwas ganz Prägnantes. Sagen wir, es würde diese verehrte Gesell-
schaft hier morgen dadurch überrascht werden - es ist ja selbstver-
ständlich eine Hypothese -, daß hier im Goetheanum, nun, sagen wir,
Lloyd George erscheint. Ich will eben einen extremen Fall anführen.
Nun, wenn morgen hier Lloyd George erschiene, so würden Sie alle
bestimmte Gedanken, bestimmte Empfindungen haben. Aber diese

Gedanken, diese Empfindungen, die Sie haben würden, die würden


nicht bloß dadurch entstehen, daß Sie von dem Augenblick, wo dieser
Lloyd George erscheint, bis zu dem Augenblick, wo er wieder weg-
geht, alles das, was Sie übersehen, verfolgen. Um das zu verfolgen,
brauchten Sie ja gar nicht zu wissen, daß er Lloyd George ist. Sie wür-
den dann an ihm nur wahrnehmen können, was man eben an einem
Menschen, der einem ganz unbekannt ist, sehen kann. Ehe Sie nicht in
die Lage kommen, von allem abzusehen, was Sie über irgend etwas,
das Sie in solcher Weise wahrnehmen, von anderswoher schon wissen
und empfinden, ehe Sie nicht bloß das rein verfolgen können, was Sie
sehen, eher denken Sie nicht exakt. Sie denken erst dann exakt, wenn
Sie imstande sind, falls morgen Lloyd George erscheint, hier nichts
anderes über ihn zu denken und zu empfinden, als was der reine Ein-
druck hervorruft, von dem ersten Moment, wo Ihr Auge auf ihn auf-
merksam wird, bis zu dem Moment, wo er Ihrem Auge wiederum ent-
schwindet. Alles das, was Sie früher gewußt haben, müssen Sie aus-
schalten. Alles das, worüber Sie sich geärgert haben über ihn, oder was
Sie entzückt hat an ihm, müssen Sie ausschalten, und nur, was er
Ihnen in der reinen Anschauung darbietet, das müssen Sie auffassen.
Nur dadurch lernt man genau der Wirklichkeit gemäß denken.

Denken Sie, wie weit die Menschheit davon entfernt ist, genau der


Wirklichkeit gemäß zu denken! Lassen Sie irgend etwas in Ihrer Seele
rege werden, so werden Sie sehen, wieviel Sie von den in der Seele
lebenden, verborgenen, unbewußten, unterbewußten Empfindungen
heraufsteigen lassen. Es ist die größte Schwierigkeit, sich auf das zu
beschränken, was man bloß gesehen hat. Versuchen Sie, etwas zu
lesen, wo irgend jemand etwas beschreibt, und fragen Sie sich: Be-
schreibt er bloß das, was er gesehen hat, oder ruft er nicht Hunderte
und Hunderte von vorgefaßten Empfindungen und Gefühlen hervor,
die da drinnen mitsprechen? - Und dennoch: nur wenn man in der
Lage ist, sich rein auf das zu beschränken, was man gesehen hat, dann
ist man imstande, allmählich zu einem genauen Denken zu kommen.

Also es muß vor allen Dingen das durchgeführt werden, daß man


alles, was einem, auch durch das Leben selbst, anerzogen ist, für ge-
wisse Erscheinungen abstreifen kann und wirklich nur das verfolgt,

was sich einem im Leben darbietet. Wenn Sie das bedenken und ein


wenig meditieren über das, was ich jetzt gerade gesagt habe, dann be-
kommen Sie allmählich einen Begriff von dem, was man exaktes Den-
ken nennt. Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch eigentlich kaum
Gelegenheit, in den heutigen Verhältnissen sich in einem exakten Den-
ken anderswo zu üben als in der Geometrie, höchstens noch im Rech-
nen. Da beschränkt sich der Mensch auf das, was er sieht.

Zu einer geometrischen Figur, zu einem Dreieck, bringt man nicht


viel Vorurteile mit. Da sagt man sich: Das ist das Dreieck. Ich zeichne
hier eine Parallele, dieser Winkel ist gleich dem Winkel dort, jener

gleich diesem, und der in der Mitte ist sich selbst gleich. Das ist dann


ein gestreckter Winkel. Also sind die drei Winkel des Dreiecks auch
gleich einem gestreckten Winkel. - Da schaue ich auf das, was ich vor
mir habe. Da bringe ich nicht solche Kolosse von Vorurteilen mit, wie
wenn Lloyd George morgen käme, und ich es etwa schon im voraus
wüßte. Natürlich will ich mit dem, was ich jetzt eben ausgesprochen
habe, nur sagen, daß ein wirkliches exaktes, genaues Denken eine gute
Vorbereitung für ein richtiges Anschauen der höheren geistigen Wel-
ten ist. Ein Denken, wobei man den Anfang des Gedankens genau in
der Hand hat und wirklich jeden Schritt des Gedankens ganz genau
überschauen kann, das ist notwendig, um in die höheren Welten hin-
einzukommen, ich meine, um verständig in die höheren Welten hin-
einzukommen. Vor allen Dingen ist eine ausgeprägte Gewissenhaftig-
keit des Denkens notwendig, ein Sich-Rechenschaft-Geben über das,
was man denkt. Und auch davon hält ja das gewöhnliche Leben zu
sehr zurück. Die Menschen haben in den meisten Fällen kein Interesse

daran, exakt zu denken, sondern sie haben vielmehr ein Interesse


daran, so zu denken, daß ihnen der Gedanke gefällt, daß ihnen der
Gedanke angenehm ist.

Nicht wahr, wenn man schließlich katholischer Priester ist und


etwas von Anthroposophie hört, so ist einem der Gedanke, daß da
etwas Richtiges sein kann in der Anthroposophie, doch furchtbar un-
angenehm. Also es kann gar nicht die Rede davon sein, daß man da
ein exaktes Denken entfaltet. Da tritt man ja an die Sache heran mit
allen möglichen Antezedenzien, allen möglichen Vorempfindungen
und Vorurteilen, und man entscheidet sich dann nach diesen Vorur-
teilen. Im Leben wird ja das meiste nach diesen Vorurteilen entschie-
den. Bedenken Sie doch nur einmal, welch sonderbaren Eindruck es
manchmal macht, wenn man einfach den Versuch macht, in vorur-
teilsloser Weise etwas zu charakterisieren. Wir leben hier im Goethe-
anum. Kein Mensch wird mir zutrauen, daß ich in geringerem Sinne
ein Goethe-Verehrer bin als irgendein anderer, aber wie vieles habe
ich gegen Goethe vorgebracht! Wie oftmals mache ich den Versuch,
Goethe aus einer begrenzten Erscheinungsreihe heraus zu charakteri-
sieren, die man überschauen kann, während zumeist, wenn über
Goethe geredet wird, schon im Namen Goethe eine ganze Summe von
Wertungen liegt. Damit, daß nur der Name Goethe ausgesprochen
wird, ist schon etwas erregt in der Seele. Man kann nicht, wenn man
an eine neue Erscheinung herantritt, vorurteilslos an diese Erschei-
nung herantreten, wenn man eben den ganzen Koloß von Vorurteilen
mitbringt.

Diese Dinge werden gewöhnlich nicht berücksichtigt, und daher


sagt man sehr häufig: Ach, man kommt ja nicht weiter in dem Herein-
dringen in die geistigen Welten! - Ja, wenn die elementaren Dinge
nicht berücksichtigt werden, so kann man eben natürlich nicht hin-
einkommen. Und die Leute betrachten es als eine Zumutung, wenn
man an sie die Anforderung stellt, die elementarsten Dinge zu berück-
sichtigen.

Ich stelle ein Bild vor Sie hin. In den neunziger Jahren war ich


einmal in Jena; da hat nach seiner Entlassung Bismarck eine große
Rede gehalten. Er ist im Gefolge von Haeckel und Bardeleben und

ändern Jenenser Professoren unter einem Baldachin erschienen. Nun


denken Sie, die ganze kolossale Menge, die dazumal auf dem Markt-
platz in Jena stand, die sollte, was Bismarck sagt, nur so verfolgen,
wie sie es verfolgen würde bei einem Menschen, den sie jetzt erst
kennenlernt! Nicht wahr, das ist undenkbar unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen. Und dennoch, für den, der wirklich in eine Art Einwei-
hung hineinkommen will, ist es durchaus notwendig, daß er sich die
Unbefangenheit entwickelt, alles das, was er sieht, auch wenn sich
darüber noch so viel schon in seiner Seele festgelegt hat, immer wie-
derum wie etwas ganz Neues anzusehen, wie etwas sozusagen ihm
vom Himmel Zugefallenes. Denn das ist ja das Eigentümliche der gei-
stigen Welt, daß wir sie uns immer erst in jedem Augenblicke wieder
neu erringen müssen, wenn wir sie haben wollen. Dazu müssen wir
uns in der entsprechenden Weise eben vorbereiten.

Aber man kann doch sagen: Wenn man die allgemeinen Zivilisa-


tionserscheinungen beachtet, bewegt sich die Menschheit in einer sol-
chen Linie. Nur kommt sie zunächst noch in schlechtem Aspekt zum
Vorschein: in dem Bekämpfen jeder Autorität, in dem Bekämpfen
jedes hergebrachten Urteiles und so weiter. Diese Dinge müssen nur
alle veredelt werden. Aber die Menschheit bewegt sich in der Linie
der Vorurteilslosigkeit, der Unvoreingenommenheit. Es kommt nur
zunächst von seiner negativen, häßlichen Seite aus zum Vorschein.
Man muß, wenn man die Entwickelung der Zivilisation richtig beur-
teilen will, wenn man sie für die Zukunft bewerten will, sie auch von
der Seite betrachten, die ich eben jetzt angedeutet habe.

ACHTER VORTRAG


Dornach, 17. Februar 1922

Wir wollen heute einmal den Durchgang der menschlichen Geist-


Seelenwesenheit durch die physisch-sinnliche Organisation betrach-

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