R e c h t s k u n d e


II. TEIL Umfangreichere Stellungnahmen für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU



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II. TEIL

Umfangreichere Stellungnahmen für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU

Eine der beiden fundiertesten (Gegen-)Stellungnahmen für einen Beitritt der Türkei in die EU habe ich per Internet in dem nachfolgend wiedergegebenen Aufsatz des ehemaligen Leiters der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul, Günter Seufert, aus der ZEIT 39/2002 gefunden.




1 Günter Seufert, freier Publizist; ehemaliger Leiter des Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul



Keine Angst vor den Türken! (DIE ZEIT 39/2002)


http://hermes.zeit.de/pdf/archiv/2002/39/200239_tuerkei.pro.xml.pdf
Seuferts These: Die EU brauche Ankara mehr, als viele glauben.
Konservative Meinungsführer in Europa würden zum Zwecke der Ausgrenzung der Türkei das alte Lied von der Exklusivität und Sublimität der europäischen Kultur neu anstimmen. Seufert verweist u.a. auf den Historiker Hans-Ulrich Wehler, der die bekannte Argumentationsfigur getreulich nachgemale und aufgereihe, was der Türkei so alles fehle zum Europaformat: die jüdisch-griechisch-römische Antike, das Christentum, die protestantische Reformation, die Renaissance, die Aufklärung und die Wissenschaftsrevolution. Das sollen die historischen Bausteine sein, aus denen das gemeinsame Haus Europa errichtet worden ist?

Robert Schuman und Konrad Adenauer sei es aber nicht um die Festschreibung von partikularen Traditionen und um die Formulierung von Werten gegangen, die keinem Land und keiner Region in die Wiege gelegt worden waren. Die wirklichen Werte Europas seien jene, zu denen auch Europa erst nach schrecklichen Fehlern gefunden habe, Werte, zu denen man sich nur bekennen könne.



Seufert wirft den Gegnern eines EU-Beitritts der Türkei vor, dass für sie das „kulturelle Gütesiegel“ Voraussetzung für den Beitritt sei. Überfremdungsängste würden dabei eine zentrale Rolle spielen. Beispielhaft wird auf Kurt Krenn, den Bischof von Sankt Pölten verwiesen, für den der Beitrittswunsch aus Ankara der "dritten türkischen Belagerung Wiens" gleich komme.

Das Argument europäischer Kultur ist angesichts der vielen Kriege, die Europa erlebt hat, zweischneidig. Und in Deutschland haben während der Nazi-Zeit weder Christentum noch Aufklärung den Rückfall in die Barbarei verhindern können, sodass Deutschland zum Gegenteil all dessen geworden war, was Europa heute ausmacht.

Die europäische Geschichte sei keine unaufhaltsame Vervollkommnung des christlichen Abendlandes - und die Türkei habe sich gerade in ihren negativen Seiten, wie z.B. dem allseits beklagten Demokratiedefizit und ihrer Haltung der kurdischen Bevölkerungsminderheit gegenüber, sehr europäisch verhalten, weil sie am Auslaufmodell des europäischen Nationalstaats orientiert habe.

Als ein Handikap gilt der politische Islam in der Türkei. Doch der türkische Islam eigne sich für Dämonisierungen denkbar schlecht. So war das Osmanische Reich der muslimische Staat mit dem stärksten Bevölkerungsanteil von Christen. Die christlichen Gemeinden auf dem Balkan und in Anatolien haben die 700 Jahre des Reiches überdauert, was für die religiöse Toleranz der Türkei spreche.

Außerdem müsse zur Kenntnis genommen werden, dass die Türken seit drei Generationen in einer laizistischen Staatsordnung leben. Es werde ein Popanz aufgebaut, wenn man die Türkei als nicht-christlich, nicht aufgeklärt, nicht gleichberechtigt (zu den Geschlechtern) und nicht fortschrittlich darstelle.

Durch die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Recep Tayyip Erdogan entstehe keine islamische Gefahr am Horizont, denn die AKP sei eine kulturell konservative und wirtschaftlich neoliberale Mittelstandsbewegung. Ihre Mitglieder suchten keinen Umsturz, sondern Integration ins System und gesellschaftlichen Aufstieg. Die laizistische Presse, einer der schärfsten Gegner Erdogans, habe ihre Kampagnen eingestellt, weil sie von Erdogan eine moderate und prowestliche Politik erwarte.

Trotzdem würden sich Wehler und andere Beitrittsgegner an die von ihnen beschworene "islamische Gefahr" klammern.

Der Wert der Türkei für die EU liege primär im Bereich der Außenpolitik. Die Stichworte sind Energiepolitik und Sicherheit. Mittelfristig wird die Türkei zur wichtigsten Verteilerstelle der Öl- und Gasvorräte einer Region, deren Reserven Kuwait den Rang ablaufen. Europa ist - stärker noch als die USA - einseitig von nahöstlichem Erdöl abhängig und habe daher ein vitales Interesse an sicheren Transportwegen. Und damit an der Türkei mit ihrer großen Armee.

Der Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsinitiative sei nicht ohne die Türkei zu haben. Sie sei ein Schlüsselmitglied der Nato, das sich aus verständlichen Gründen jedem Alleingang der EU in dieser Region widersetze.

Wer die 67 Millionen Türken nur als Einwanderungsmasse und nicht als einen viel versprechenden Markt betrachtet, werde seine eindimensionale Sicht in 10 bis 15 Jahren gründlich revidieren müssen.


Kommentar:

„Ex oriente lux“? Aus dem Osten kommt für die Europäer das Licht, das Heil? Die menschliche Psyche »funktioniert« nicht ohne – zwangsläufig auf tradierten historischen Erfahrungen aufbauende – Identität! Und strategisch-langfristig angelegte Politik auch nicht. Das lässt Seifert jedoch unter den Tisch fallen.


Die von mir vertretende Position wird von Seufert als „konservativ“ umschrieben. Konservativ? Das scheint mir fraglich – und es ist das erste Mal, dass ich als ehemaliges – „Pater peccavi!“ - sozialliberales (damaliges) SPD-Mitglied, das anlässlich seines Ausscheidens aus dem Dienst als „Studienrat an Volks- und Realschulen in Hamburg im Dienste der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate“ zur Aufnahme meines juristischen Zweitstudiums in gewollter Anspielung von den Eltern eines Schülers zum Abschied das (bisher nicht gelesene) marxistisch-kommunistisch ausgerichtete Buch von Lukás: „Geschichte und Klassenbewußtsein“ zum Geschenk erhielt, weil ich als »rot« verschrien war, da ich 1970(!) mit meiner Klasse eine Klassenreise in die (Ex-)DDR unternehmen wollte, um als engagierter Politiklehrer an einer kirchlichen Schule den Schülern zu zeigen, dass hinter »der Mauer« ein weiterer Teil von Deutschland ist, ein Vorhaben, dem von meiner Schulleitung im Vertrauen auf meine Fähigkeiten als engagierter Politiklehrer zugestimmt worden war, das dann aber von der (Ex-)DDR abgelehnt wurde, weil es ihr zu progressiv war, dass jemand mit meinen politischen Ansichten als konservativ eingestuft wird.
Ganz gewiss ist die von mir in der Frage einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU eingenommene Position aber wertkonservativ - was für die Stellungnahme eines über den Zeitraum einer Wahlperiode hinausblickenden Historikers nicht allzu verwunderlich sein dürfte.
Aber gleichzeitig steht dahinter die fortschrittlichste Vision für Europa: die von den auszubauenden „Vereinigten Staaten von Europa“! Und diese Vision ist unter Aufnahme der identitätsfremden Türkei sicher nicht zu verwirklichen. Wer kein irgendwann »Vereinigtes Europa« als ernst zu nehmende politische Einheit in der Welt, als gleichwertiger Partner neben der Supermacht USA und dem erwachenden chinesischen Riesen will, der muss für eine Aufnahme der Türkei in die EU als Vollmitglied kämpfen: das scheint mir der sicherste und eleganteste Weg zu sein, diese meine Vision von Europa zu verhindern. Und das wäre im us-amerikanischen Interesse!
Ohne eine gemeinsame, dem Einzelnen möglichst auch bewusste Identität geht es nicht. Die menschliche Psyche ist - nach allem, was ich (rudimentär) von ihr weiß – eben so. Und dann muss man das auch in Rechnung stellen. Es sei an das altersweise Wort von Konrad Adenauer erinnert:
„Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind: Sie haben keine anderen.“

Eine andere ausführliche Stellungnahme wurde von der Abgeordneten der Grünen im Europa-Parlament Heide Rühle erarbeitet, die mir ihre Ausarbeitung als Antwort auf meinen Aufsatz zumailte. Frau Rühle ist übrigens die einzige der 99 deutschen Abgeordneten im Europa-Parlament und der 603 MdBs, die auf meinen Aufsatz mit der Zusendung ihrer Gegenposition reagierte; vermutlich deswegen, weil sie ihre Ausarbeitung parat hatte, aber immerhin: nicht nur überhaupt eine Reaktion, sondern sogar eine inhaltliche! Und dann war da noch das Büro einer SPD-Abgeordneten aus Aachen, das mir zurückschrieb: Wenn ich nicht zum Wahlkreis der Abgeordneten gehöre, was ich erst einmal kenntlich machen müsste, könne man sich aus Kapazitätsgründen nicht mit dem Aufsatz befassen.

Von den anderen 701 angeschriebenen Volksvertretern rührte nicht einer einen Finger auf der Tastatur für eine auch nur den Empfang bestätigende Standardantwort, geschweige denn für eine inhaltliche Stellungnahme: „Ich bin zwar ein Volksvertreter, will aber nicht von sich engagierenden Bürgern belästigt werden; und lasst mich mit einem so wichtigen Problem in Frieden!“


2 Heide Rühle MdEP (publiziert vor dem Europawahlkampf 2004)


Frau Rühle schickte mir ihre Stellungnahme als Erwiderung auf meine ihr mitgeteilte Position zu. Sie führt darin als Gegenposition aus:

Gehört die Türkei nach Europa?


Hintergründe und Argumente zur Debatte um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union

Europäisch-grüne Argumentationshilfe zum Europajahr 2004


Inhalt 1. Zur Einführung

Tabelle: Kurze Geschichte der Beziehungen EU – Türkei

2. Wer kann Mitglied der Europäischen Union werden?

3. Ist die Türkei ein europäisches Land?

4. Wo liegen die Grenzen der EU?

5. Lässt sich der Islam in die EU integrieren?

6. Was sind die Kriterien für einen Beitritt?

7. Erfüllt die Türkei bereits die Kopenhagener Beitrittskriterien?

8. Ist eine „EU 30+“ noch handlungsfähig?

9. Was kostet uns der Beitritt der Türkei?

10. Bekommen wir offene Grenzen zur Türkei?

11. Was sind die Vorteile eines Türkei-Beitrittes für die EU?



2.1 Zur Einführung

Die Europäische Union wird sich in den nächsten Jahren enorm verändern und vergrößern: im Mai 2004 erweitert sich die EU um 10 Staaten auf insgesamt 25 Mitgliedstaaten, drei Jahre später werden voraussichtlich Rumänien und Bulgarien der EU beitreten; und am 17.12.04 wird der Europäische Rat, das heißt die Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU, auf einem Gipfel über einen Termin für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden. Noch nicht entschieden wurde über die Fahrpläne für den westlichen Balkan. Es gibt allerdings eine grundsätzliche Zusage, wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse es erlauben, auch hier mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in den meisten EU-Staaten fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger von dieser rasanten Entwicklung überfordert. Ängste vor zusätzlichen Belastungen und mangelnde Informationen verunsichern sie. Wichtig sind deshalb konkrete Informationen und eine sachliche Auseinandersetzung.



Leider scheint nun aber die CDU/CSU entschlossen, die Frage eines Beitrittes der Türkei zur EU zum Thema des nächsten Europawahlkampfes zu machen. Das erschwert eine sachliche Auseinandersetzung und entbehrt zudem der Logik, denn - erstens hat das Europaparlament in der Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen keine Mitwirkungsrechte. Es entscheidet allein der Rat, das sind die Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten, auf Grundlage einer Empfehlung der Kommission, über die er sich aber hinwegsetzen kann. Und es wird auch - zweitens im Dezember 2004 keine Entscheidung für oder gegen den EU-Beitritt der Türkei durch die Regierungschefs gefällt. Es geht am 17.12.04 um die Frage, ob die Türkei für reif für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erachtet wird. Bis zu einer vollen Mitgliedschaft der Türkei würden dann noch viele Jahre vergehen und die Entscheidung über einen Beitritt wird erst nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen von den Abgeordneten des Europaparlamentes, den Parlamenten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten und dem türkischen Parlament getroffen.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU entwickelten sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einem vertraglich vereinbarten Rahmen. 1959 hatte die Türkei den ersten Mitgliedsantrag auf Mitgliedschaft in dem reinen Wirtschaftsverbund EG, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, und der EWG, dessen gemeinsamen Agrar- und Industriemarkt, gestellt, der abschlägig beschieden worden war. Es war dann nicht zuletzt Adenauer, der der Türkei 1963 den Weg zum Assoziierungsabkommen mit dem ausdrücklichen Ziel eines Beitrittes zur (damals) ausschließlich auf rein wirtschaftliche Zusammenarbeit angelegten supranationalen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eröffnete; an einen politischen Zusammenschluss Europas dachten da nur einige wenige Visionäre, in der politischen Diskussion war sie jedoch nicht. 1987 beantragte die Türkei ihre Vollmitgliedschaft in der EG. Dieses Gesuch wurde im Dezember 1989 von der EG-Kommission zurückgewiesen: leider aus politischer Feigheit mit der »falschen« Begründung, die wirtschaftliche und politische Lage sei zu instabil (Staatsstreiche des türkischen Militärs 1960, 1971 und 1980). Zu dem Zeitpunkt wäre ein klares Wort angebracht gewesen, dass die Türkei als asiatisches Land nicht in einen europäischen Staatenbund aufgenommen werden könne, da das den Rahmen Europas sprenge. Erst im Februar 1992 unterzeichneten die Außen- und Finanzminister der EG-Staaten die Maastrichter Verträge zur Gründung der EU, die im November 1993 in Kraft traten. Die Türkei behauptet aber wahrheitswidrig, dass ihr seit über 40 Jahren eine Perspektive zum Beitritt in die - erst viel später gegründete - politischen Gemeinschaft der EU eröffnet worden sei, indem sie ihren Wunsch nach Angliederung an das Wirtschaftsbündnis EG umdeutet in eine Zusage des Beitritts zur politischen Vereinigung Europas, die erst rund 30 Jahre später stattgefunden hat! Im Januar 1996 tritt die Zollunion zwischen der EU und der Türkei in Kraft – mit der Auswirkung, dass die Türkei später vorbringt, mit Abschluss dieses Vertrages habe sie eine privilegierte Partnerschaft erreicht: darum könne es nunmehr nur noch um eine Vollmitgliedschaft ihres Staates in der EU gehen. Am 14.12.1997 erklärte dann der damalige Bundeskanzler Kohl (CDU) vor der Bundespressekonferenz in Bonn zur Frage eines Türkeibeitrittes: „Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen, nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die Türkei in der Perspektive der Zukunft die Chance hat, der Europäischen Union beizutreten.“ (Vielleicht wurde sein Blick für die Gesamtproblematik auch durch persönliche Erfahrungen beeinflusst, denn einer seiner Söhne lebte da schon lange in u.a. den USA und London mit seiner international ausgebildeten und international tätigen türkischen »Schwiegertochter in spe« zusammen.) Bereits im September des gleichen Jahres hatte Kohl anlässlich des Besuches des türkischen Ministerpräsidenten Yilmaz erklärt, er unterstütze „das Ziel einer späteren Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union“ (CDU-Presseerklärung vom 30.09.1997). Solange die Türkei als „Bollwerk“ gegenüber dem Warschauer Pakt gebraucht wurde, war die EU-Perspektive für Ankara in der CDU/CSU also gar nicht umstritten. Erst mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und der Perspektive einer Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Staaten verlor die Türkei für diese konservativen Politiker an Attraktivität. Es ist die ständige Krux: Politiker denken in Wahlperioden, Staatsmänner in längeren zeitlichen Dimensionen; leider gibt es unter Politikern so selten Staatsmänner, die ein politisches Problem grundsätzlich durchdenken! Nun haben die Politiker dafür beratende Experten an wissenschaftlichen Instituten, aber aus kurzfristigen politischen Erwägungen hören sie leider oft nicht auf den Expertenrat, wenn er ihnen nicht in ihr Konzept des politischen Durchwurstelns passt.

Man kann natürlich von einem völkerrechtlich geschlossenen Vertrag wie einem Assoziierungsvertrag wieder abrücken. Dann sollte man das aber auch so klar benennen und nicht das Thema innenpolitisch instrumentalisieren. Und man sollte sich dann auch darüber im Klaren sein, welche Folgewirkungen ein Vertragsbruch mit sich bringen kann.

Die CDU/CSU betont nun, man solle mit der Türkei einen speziellen Kooperationsvertrag abschließen – als Alternative zum Beitritt. Diesen speziellen Vertrag gibt es, wie vorstehend schon dargestellt, aber schon längst: 1996 war zwischen der EU und der Türkei eine Zollunion vereinbart worden.

Kurze Geschichte der Beziehungen EU - Türkei


29. Oktober 1923: Gründung der türkischen Republik. Europa wird zum politischen Modell für die Türkei.

1934: Das Frauenwahlrecht wird in der Türkei eingeführt.

8. August 1949: Die Türkei wird eines der ersten Mitglieder im Europarat.

September 1951: Die Türkei erklärt – zusammen mit Griechenland – den ab 1952 wirksamen Beitritt zur NATO.

20. September 1959: Zwei Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) reicht die Türkei den Antrag auf assoziierte Mitgliedschaft ein.

12. September 1963: Zwischen der Türkei und der EWG wird ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet. In diesem völkerrechtlich bindenden Vertrag wird der Türkei „die Möglichkeit des Beitritts“ (Artikel 28), sowie (in Paragraf 4 der Präambel) zugesichert, dass die Hilfe der EWG „später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft erleichtern soll“. Es sei aber betont: des Beitritts zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft; die Perspektive auf einen politischen Zusammenschluss europäischer Länder zu einem supranationalen politischen Gebilde bestand noch nicht einmal für die europäischen Länder! Daher lässt sich aus dieser mit dem Assoziierungsabkommen eröffneten Beitrittsmöglichkeit zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kein Anspruch auf Teilhabe an der erst später gegründeten politischen Vereinigung europäischer Staaten zur EU begründen, die erst durch die Maastrichter Verträge von 1992 mit Geltung ab 1993 geschaffen wurde!

Federführend an der Erarbeitung dieses Vertrages waren beteiligt der damalige westdeutsche Kanzler Adenauer (CDU) und der damalige EU-Kommissionspräsident Walter Hallstein (CDU). Hallstein erklärte anlässlich der Unterzeichnung: „Wir sind heute Zeuge eines Ereignisses von großer politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs: Er ist, in denkbar zeitgemäßer Form, die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein abgekürzter Ausdruck einer geografischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung, die für einige Jahrhunderte Gültigkeit hat. Die Türkei gehört zu Europa.“ (zitiert aus: Die Grenzen der Erweiterung, von Dr. Dietrich von Kyaw, Botschafter a. D., Berlin; 1993 bis 1999 deutscher Ständiger Vertreter bei der EU)



13. November 1970: Das Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen erörtert detailliert die Schritte zu einer Zollunion.

12. September 1980: Der Militärputsch in der Türkei führt zur Verschlechterung der Beziehungen zur EWG.

14. April 1987: Die Türkei stellt den Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EWG.

18. Dezember 1989: Die Europäische Kommission lehnt den Beitritt der Türkei zu diesem Zeitpunkt aus wirtschaftlichen und politischen Gründen ab. Vor Aufnahme von Beitrittsverhandlungen müssten erst die Möglichkeiten der Assoziierung ausgeschöpft und eine Zollunion verwirklicht werden. Sie bestätigt aber gleichzeitig der Türkei – auf ständigen us-amerikanischen Druck hin -, dass sie die „Fähigkeit“ besitze, Mitglied in der EWG zu werden; das war der aus politischer Rücksichtnahme gegenüber den politischen Vorstellungen der NATO-Führungsmacht USA und dem NATO-Mitglied an der Südost-Flanke der NATO geborene Fehler!

1. Januar 1996: Das Inkrafttreten der Zollunion (beantragt mit der EWG) interpretiert die Türkei als einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union EU.

27. April 1997: Auf dem Treffen des Assoziationsrates bestätigt die EU – immer auf Grund starker politischer Einflussnahme der USA -, dass die Türkei eine europäische Perspektive habe und daher grundsätzlich nicht von einer späteren Mitgliedschaft ausgeschlossen werden könne. Das war in dieser Angelegenheit der zweite politische Fehler.

10./11. Dez. 1999: Auf dem EU-Gipfel in Helsinki erklärt die EU die Türkei offiziell zum Beitrittskandidaten.

2 . August 2002: Die Türkei schafft im Rahmen eines umfangreichen EU-Reformpakets offiziell die Todesstrafe ab, beschließt die Ausweitung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Möglichkeit der Ausstrahlung von Fernseh- und Rundfunkprogrammen auch in den Muttersprachen der Minderheiten.

3. November 2002: Bei den türkischen Parlamentswahlen erringt die konservative AKP fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Wahlsieger Erdogan verspricht noch am Wahlabend, den Beitritt der Türkei in die EU zu beschleu­ni­gen.

12. Dezember 2002: Der Gipfel von Kopenhagen beschließt, ein positives Signal für den Beitritt der Türkei zu setzen.

31. Juli 2003: Als Krönung einer ganzen Reihe von Reformen im Hinblick auf den EU-Beitritt beschließt das türkische Parlament den politischen Einfluss des Militärs (in Form des „nationalen Sicherheitsrates“) einzudämmen.

6. Oktober 2004: Die EU-Kommission empfiehlt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

16. Dezember 2004: Die EU-Staats- und Regierungschefs beschließen, dass am 3. Oktober 2005 Beitritts­verhandlungen mit der Türkei beginnen sollen. Zuvor müsse die Türkei aber die Zollunion auf die zehn neuen Mitgliedstaaten, darunter Zypern, ausweiten.

29. Juni 2005: Die EU-Kommission schlägt einen Verhandlungsrahmen vor, der 35 Verhandlungskapitel umfassen wird.

29. Juli 2005: Die Türkei unterzeichnet das Ankara-Protokoll und weitet damit die Zollunion auf die zehn neuen EU-Staaten aus, stellt dabei aber gleichzeitig in einer angehängten einseitigen Erklärung klar, dass dieses Wirtschafts­abkommen nicht als indirekte Anerkennung des EU-Mitgliedslandes Zypern verstanden werden dürfe: Bezüglich Zyperns beharre die Türkei weiterhin auf Nichtanerkennung des EU-Mitgliedsstaates!!!

28. September 2005: Das Europäische Parlament spricht sich für die Aufnahme der Verhandlungen am 3. Oktober aus und drängt auf eine Anerkennung Zyperns. Die Türkei bleibt aber stur.

3. Oktober 2005: Die Beitrittsverhandlungen, die 35 Verhandlungskapitel umfassen und bei dem Experten der EU-Kommission und der türkischen Regierung den “Acquis Communautaire” durcharbeiten, d.h., den Rechtsstand innerhalb der EU darstellen und ihn mit dem momentanen türkischen Rechtsstand abgleichen, um so festzustellen, wo legislativer Angleichungsbedarf besteht, damit die Türkei europäische Standards erreiche, werden aufgenommen, ohne dass als „conditio sine qua non“ (= Bedingung, ohne deren Einhaltung nichts möglich ist) die Türkei die Republik Zypern anerkannt hätte! Die EU-Kommission unterlässt es aus politischer Feigheit, auf Grund der Weigerung der Türkei, Zypern anzuerkennen, die Beitrittsverhandlungen vor ihrer Eröffnung als so nicht möglich und damit für gescheitert zu erklären. Erdogan setzt sich mit seiner hochexplosiven Mischung aus Stolz und Beleidigtsein durch.

2.2 Wer kann Mitglied der Europäischen Union werden?

Artikel 49 des EU-Vertrages (Artikel O Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union) nennt als einziges Kriterium für einen Beitritt zur Union, dass es sich um ein "europäisches" Land handeln muss, das die Grundsätze der EU achtet: "~Jeder europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat; dieser beschließt einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder beschließt.“ Diese Grundsätze sind: "~(1) Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“



2.3 Ist die Türkei ein europäisches Land?

Es ist richtig, dass die Türkei nach der heute allgemein akzeptierten geografischen Definition territorial nur zu einem äußerst kleinen Gebietsteil von 3 % in Europa liegt. Doch interessanterweise stellte bisher niemand diese Frage bezüglich Zyperns, das geografisch eindeutig östlicher als der größte Teil der Türkei liegt. Bei einer rein geografischen Betrachtung wären auch andere Abgrenzungen des Raumes Europa denkbar. Europa ist kein geografisch fest begründetes Gebilde wie Afrika, Amerika oder Australien: das Römische Reich umfasste das Mittelmeer, nicht jedoch Skandinavien und Osteuropa; auch die Renaissance hat Nord- und Osteuropa nicht so stark geprägt wie den Westen. Dennoch spricht niemand diesen Ländern die Zugehörigkeit zu Europa ab. Das „christliche Abendland“ umfasste nie Byzanz und doch gehört für uns Griechenland selbstverständlich zu Europa. Der byzantinisch geprägte Raum kannte weder die konstitutive Trennung von Kirche und Staat, noch die daraus abgeleiteten Perioden der Renaissance und Aufklärung. Und doch sprechen auch Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler Slowenien, Bulgarien, Kroatien oder Rumänien nicht grundsätzlich die Eignung für die EU ab, „weil sie sich der politischen Kultur des Westens geöffnet und diese sich anzueignen begonnen haben“ (der Historiker Winkler in der „Zeit“ vom 07.11.02 und in einem SPIEGEL-Interview 51/2004). Damit wird eingeräumt, dass die Entwicklung einer „europäischen Identität“ ein gesellschaftlicher Prozess ist, der nicht durch historisch-kulturelle Voraussetzungen ausgeschlossen werden kann. Die bisherigen Erweiterungsrunden der EU beruhten nicht auf geografischen Grenzen, sondern auf politischen Erwägungen. Der Begriff „europäischer Staat“ in Artikel 49 EUV, der den Beitritt regelt, wird nach vorherrschender Auffassung nicht allein durch geografische Kriterien definiert. Die Beurteilung, ob ein Beitrittskandidat dem Kriterium des „europäischen Staates“ gerecht wird, liegt letztlich in der politischen Entscheidung der Mitgliedstaaten der EU. Und da die Mitgliedstaaten praktisch schon kurz nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Türkei im Assoziierungsabkommen von 1963 die Möglichkeit eines späteren Beitrittes vertraglich zugesichert haben, ist der Streit um die geografische Lage der Türkei längst entschieden. Diese Zuordnung wurde auch, wie obige Zeittafel zeigt, in den Folgejahren mehrfach bestätigt.



2.4 Wo liegen die Grenzen der EU?


Was ist mit Russland, Israel und Marokko, Algerien und Tunesien, die alle mehr oder minder offen ihr Interesse an einer EU-Mitgliedschaft bekund(et)en? Außengrenzen mit Syrien, dem Iran und dem Irak?

Die Aufnahme in die Europäische Union ist eine politische Entscheidung der EU-Mitgliedstaaten, es gibt weder ein Recht noch eine Pflicht zur Aufnahme von Staaten und schon gar keinen Automatismus, der aus einem Beitritt der Türkei abgeleitet werden könnte: wenn die politische Entscheidung der Mitgliedstaaten das entscheidende Kriterium ist, behalten diese auch in jedem einzelnen Fall die Entscheidungshoheit. Der Antrag Marokkos auf Aufnahme in die EU wurde beispielsweise vor einigen Jahren von der EU mit der Begründung zurückgewiesen, Marokko sei kein „europäisches Land“. Die EU hat seit dem Europäischen Rat in Kopenhagen 1993 zwar generelle Beitrittskriterien vorzuweisen (s.u.), jedoch keine Erweiterungskriterien. Es gibt noch immer keine Strategie der EU-Mitgliedstaaten bezüglich der endgültigen Grenzen der EU - zu groß sind die unterschiedlichen Interessen bezüglich der Aufnahme weiterer Staaten. Während Deutschland, Österreich und die skandinavischen Staaten den Schwerpunkt auf die Osterweiterung legten und legen, befürchten die Mittelmeerstaaten eine Schwerpunktverlagerung nach Norden und Osten und einen Machtzuwachs vor allem für Deutschland. Für sie ist eine mögliche Süderweiterung als Ausgleich von großer Bedeutung. Um einer Legendenbildung von türkischer Seite entgegenzutreten, muss betont werden, dass es keine europäische Gesamtstrategie gegenüber der Türkei gab und gibt. Die EU ist ein dynamisches Kräftefeld, in dem, unter Befolgung gewisser Regeln, Staaten versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Es ist richtig, dass die Frage der Grenzen der EU die Bürgerinnen und Bürger mehr beunruhigt als die Diplomaten der EU, die zu häufig Versprechungen machen, um gewisse politische und wirtschaftliche Entwicklungen zu befördern. Wenn aber keine wirklichen Alternativen zum EU-Beitritt entwickelt und propagiert werden, wird in den Augen vieler Bürger die Legitimität Europas untergraben. Dieser Konflikt sollte jedoch nicht auf dem Rücken der Türkei ausgetragen werden, deren Beitrittsperspektive seit 1963 mehrfach vertraglich zugesichert wurde. Es ist politisch kurzsichtig anzunehmen, die EU werde von der instabilen Lage im Nahen Osten oder dem Kaukasus mehr tangiert, wenn sie die Türkei aufnimmt und sich dadurch bis an die Grenzen dieser Regionen ausdehnt. Gerade beweist uns die Irak-Krise das Gegenteil! In einer globalisierten Welt ist Europa von allen Entwicklungen in allen Regionen dieser Welt, ob nah oder weit entfernt, unmittelbar betroffen. Es stellt sich eher die Frage, ob nicht ein EU-Beitritt der Türkei zur Eindämmung eines Großteils dieser Konflikte beitragen und somit die Stabilität dieser Regionen erhöhen könnte. Schon heute wurden im Rahmen des Beitrittsprozesses die türkischen Konflikte mit Griechenland, Bulgarien und Rumänien entschärft und es gibt (äußerst) geringe neue Ansätze für den Zypernkonflikt. Eine in die EU eingebundene Türkei könnte zu einer Stabilisierung der Lage im Kaukasus mehr beitragen als eine aus Sicht der regionalen Kleinstaaten weitgehend selbstständig agierende Regionalmacht Türkei. Heute verfolgt die Türkei in diesen Regionen eine vom nationalen Interesse angetriebene Außenpolitik mit einer Tendenz zur Ethnisierung politischer Konstellationen: immer wenn in einem anderen Staat turkstämmige Teile der Bevölkerung unter Druck stehen, sieht sich die Türkei zum Eingreifen veranlasst. Diese Politik könnte natürlich im Rahmen der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU) nicht fortgesetzt werden. Das gilt auch für den großen Einfluss der türkischen Militärführung in außenpolitischen Fragen. Mit der Begrenzung der Rolle des Militärs durch die Reformen vom Juli 2003 ist die Türkei auf dem richtigen Weg – die effektive Umsetzung dieser Reformen muss allerdings noch vor der EU-Entscheidung im Dezember 2004 abgesichert werden. Sie ist Grundbedingung der Beitrittsverhandlungen.

2.5 Lässt sich der Islam in die EU integrieren?

Im 21. Jahrhundert stehen wir vor der Herausforderung, die Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen zu überwinden. Europa kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Die Mitgliedschaft der Türkei würde deutlich zeigen, dass die EU keinen Kampf der Kulturen will, das europäische Modell von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist auch eine Perspektive für manche Länder mit muslimischer Bevölkerung. Auch der immer wieder vorgebrachte Vorbehalt, die türkische Gesellschaft sei eine Männer-Gesellschaft, spiegelt nur einen Ausschnitt der türkischen Realität wider. Es ist richtig, dass ländliche Regionen noch heute durch eine starke Diskriminierung der Frau geprägt sind. Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen oder Morde aus Ehre gehören trotz aller Reformen noch heute zu einem Teil der Lebensrealität in den östlichen Provinzen. Andererseits hat die Türkei früher als manche europäischen Länder das Wahlrecht für Frauen gesetzlich verankert. In der Türkei sind 47 % der Schüler, 48 % der Gymnasiasten, 41 % der Studenten, 24 % der Rechtsanwälte, 18 % der Richter, 35 % der Ärzte, 42 % der Apotheker und 51 % der Architekten weiblich. Die Rektorin der Technischen Universität Istanbul, die Präsidentin des türkischen Amtes für Gerichtsmedizin, die Botschafterin der Türkei beim Vatikan sind Frauen. Das ist der eine Teil der Lebensrealität in der Türkei, der nicht verschwiegen werden sollte.

Daneben gibt es den anderen Teil. Frauendiskriminierung in der Türkei? Ja, die gibt es verbreitet. Bei dieser Diskussion wird aber häufig vergessen, dass bereits heute der Islam nach dem Christentum die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in der EU ist; man geht davon aus, dass schätzungsweise 15 Millionen Muslime in den Mitgliedstaaten der EU leben. Europa wurde geprägt durch eine Vielfalt an religiösen und nicht-religiösen Einflüssen. Schon das macht die Aus- und Abgrenzung gegenüber einer Religion schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Die heftige Debatte um den Gottesbezug im neuen Verfassungsentwurf der EU hat nochmals deutlich gemacht, dass sich die EU zwar als Werte-, nicht jedoch als Religionsgemeinschaft definiert, mit der im politischen Wertekanon Europas fest verankerten Trennung von Staat und Religion und der nicht minder wichtigen Freiheit der Religionsausübung. Der Türkei kann die Andersartigkeit heute nicht mehr direkt über die religiöse Differenz bescheinigt werden, da sie sich seit Gründung der Republik (1923) nicht mehr über den religiösen Faktor definiert.

Wenn der Islam nicht aggressiv, sondern still als Privatsache gelebt wird, dann dürfte sich kein gebildeter Europäer an ihm stören!

Aber leider ist das häufig nicht der Fall: „Hassprediger“ wiegeln ihre Anhänger auf! Und das hat dann Auswirkungen, die eine zu große Kulturferne deutlich machen und damit ein Zusammenleben so erschweren, dass man besser hätte darauf verzichten und es nicht durch weiteren Zuzug noch weiter verschärfen sollte.

2.6 Gibt es Kriterien für einen Beitritt?


Die Kopenhagener Kriterien

Es gibt klare Kriterien für einen Beitritt zur EU. Der Gipfel von Kopenhagen beschloss 1993 die so genanten Kopenhagener Kriterien nach denen Beitrittsstaaten bewertet werden (Europäischer Rat in Kopenhagen am 21./22. Juni 1993, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Punkt 7/A/iii). Sie bestehen aus drei Teilen: den politischen, wirtschaftlichen und administrativen Kriterien.



Konkrete Beitrittsverhandlungen werden erst aufgenommen, wenn die politischen Kriterien erfüllt sind. Die wirtschaftlichen und administrativen Kriterien müssen hingegen erst im Rahmen der Beitrittsverhandlungen erfüllt werden. Dafür gibt es so genannte technische und finanzielle Hilfen der EU, beispielsweise die Programme SAPARD (für die Anpassung der landwirtschaftlichen Strukturen), ISPA (Vorbereitung auf die Strukturpolitik) und PHARE (Hilfen vor allem für die Verwaltung). Außerdem hilft die EU bei Städtepartnerschafts-Projekten, in deren Rahmen Experten aus den Mitgliedstaaten vor Ort mit Experten aus den Beitrittsländern zusammenarbeiten. Die Kriterien im Einzelnen:


  1. Die politische Kriterien von Kopenhagen: Realisierung der institutionellen Stabilität als Garantie für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie für den Schutz von Minderheiten. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, beginnen die eigentlichen Beitrittsverhandlungen.

  2. Die wirtschaftlichen Kriterien: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, funktionsfähige Verwaltungen und ein konsequenter Kampf gegen die Korruption.

  3. Die administrativen Kriterien: Die Übernahme der aus einer Mitgliedschaft resultierenden Verpflichtungen und Ziele der politischen Union und Währungsunion. Das bedeutet Übernahme des gesamten Rechtsbestandes der Union, des so genannten „acquis communautaire“ in die nationale Gesetzgebung. Zurzeit sind dies ungefähr 80.000 Seiten an Verordnungen und Richtlinien. Allein aus diesem Grund sollte man von einem Beitrittsprozess ausgehen, der mindestens 10 Jahre dauert. Im Laufe dieser Zeit wird sich die Türkei noch grundlegender wandeln als dies derzeit im Rahmen des Reformprozesses für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geschieht. Sie bekommt dann allerdings auch Hilfen von der EU. Der Prozess wird in umfangreichen jährlichen Berichten festgehalten, den so genannten Fortschrittsberichten, die von der EU-Kommission erstellt, und vom Europaparlament ergänzt bzw. kommentiert werden.



2.7 Erfüllt die Türkei bereits die Kopenhagener Kriterien?


Wann kommt der Beitritt? Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission von Anfang November 2003 stellt zur Türkei fest: „Im Laufe des letzten Jahres wurden vier große politische Reformpakete angenommen, mit denen in verschiedenen Bereichen der Rechtsvorschriften Änderungen eingeführt wurden. Einige dieser Reformen sind politisch von großer Bedeutung, da sie sich auf im türkischen Kontext heikle Fragen, wie Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, kulturelle Rechte und die zivile Kontrolle über das Militär erstrecken… Das am 3. November 2002 neu gewählte Parlament hat diese „Reformpakete“ mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Im Laufe dieses Prozesses hat die türkische Bevölkerung auf breiter Front zum Ausdruck gebracht, dass sie die Veränderungen zur Annäherung der Türkei an die Werte und Standards der Europäischen Union uneingeschränkt unterstützt… Des Weiteren hat die Regierung eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Folter ausgerufen“ (s. Seite 16/17 des Fortschrittsberichts 2003, abrufbar unter http://www.europa.eu.int/comm/enlargement/report_2003/index.htm). Doch kommt auch die Kommission nicht umhin festzustellen: „Allerdings zeitigten die Reformen trotz einiger positiver Entwicklungen vor Ort praktisch nur begrenzte Auswirkungen. Die Umsetzung erfolgt eher langsam und uneinheitlich“ (Fortschrittsbericht S. 17). Auch wenn die Türkei ein hohes Reformtempo angeschlagen hat und sich im Augenblick fast revolutionäre Veränderungen in der Türkei vollziehen, kann man noch nicht davon ausgehen, dass die politischen Kriterien von Kopenhagen bereits erfüllt sind ... Es gibt in der Praxis noch zahlreiche Verstöße wie Folter, Benachteiligung von ethnischen (Kurden) oder religiösen Minderheiten (Christen). Immer wieder wird Meinungsvielfalt und Freiheit der Diskussion unterdrückt, das zeigt sich besonders in der Aufarbeitung der Geschichte in der Türkei, im Verhältnis zu Armenien und zur armenischen Minderheit in der Türkei. Es geht nicht darum, wie es eine Mehrheit im Europäischen Parlament gefordert hat, dass die Türkei den Völkermord an den Armeniern anerkennen muss, um der Europäischen Union beitreten zu können. Das wäre ein Messen mit zweierlei Maß - verglichen mit der mangelhaften Geschichtsaufarbeitung vieler Mitgliedstaaten. Es ist aber leider eine Tatsache, dass die Türkei eine offene Auseinandersetzung mit diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte bisher immer wieder unterdrückt hat (vgl. Ministerialerlass des türkischen Bildungsministeriums vom 21. April 2003). Tatsache ist, und das bestätigen alle Minderheiten in der Türkei, dass die großen Fortschritte, die die Türkei in den letzten zwei Jahren gemacht hat, ohne die Beitrittsperspektive nicht denkbar gewesen wären. Ohne Rückendeckung durch die EU hätten die türkische Regierung und das Parlament nicht die Macht der Militärs begrenzen können. Es kann jedoch keinen politischen Bonus für die Türkei geben. Die EU-Kommission erkennt ausdrücklich die Fortschritte der Türkei an, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass es nicht allein um Fortschritte gehen kann, sondern um die Erfüllung der Kriterien. Angesichts der Erfahrung, dass Verfassungs- und Gesetzesreformen in der Türkei immer wieder im Nachhinein in der Verwaltungspraxis verwässert wurden, betont die Kommission darüber hinaus, dass die Reformen auch im alltäglichen Leben ankommen, d.h. in die Praxis umgesetzt werden müssen. Die Türkei muss sich laut Kommission vor allem folgenden Punkten widmen: „der Stärkung der Unabhängigkeit und Funktionsweise der Justiz, dem allgemeinen Rahmen für den Genuss der Grundfreiheiten (Vereinigungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit), der weiteren Angleichung der Beziehungen zwischen Zivilsphäre und Militär an die europäische Praxis, der Lage im Südosten und den kulturellen Rechten... Um zu gewährleisten, dass die türkischen Bürger Menschenrechte und Grundfreiheiten nach europäischen Standards genießen können, sollte die Türkei die vollständige und wirksame Umsetzung der Reformen gewährleisten“ (siehe Seite 150 des Fortschrittsberichts 2003). In ihrem Fortschrittsbericht stellt die Kommission auch eine Verbindung zwischen Beitrittsperspektive und der Lösung der Zypernfrage her. Diese Frage gehört formal nicht zu den in Helsinki und Kopenhagen festgelegten Kriterien für die Eröffnung von Verhandlungen. Kommissar Verheugen unterstrich im November deshalb auch in seiner Rede zur Vorlage des Fortschrittsberichtes im Europäischen Parlament, dass es sich hierbei nicht um eine „Bedingung“ handle (warum eigentlich nicht?!?). Er betonte jedoch zugleich, dass es für die Bemühungen der Türkei ein „ernstes Hindernis“ sei, dass bisher keine politische Lösung für die Zypernfrage zu erkennen sei. Dies sei eine eindeutige politische Botschaft, die die Türkei zum Anlass nehmen solle, Maßnahmen zu ergreifen. Der Rat hat bei seinen Beschlüssen in Helsinki (Dezember 1999) und Kopenhagen (Dezember 2002) zum offiziellen Status der Türkei als Beitrittskandidat eine direkte Verbindung zur Zypernfrage abgelehnt. Und darauf pocht die Türkei seitdem.

Auch die Kopenhagener Kriterien von 1993 enthalten keine Passage über die Beilegung von Grenzstreitigkeiten. Allerdings ist für die Aufnahme eines Kandidaten in die EU eine Voraussetzung die friedliche Beilegung aller Grenzstreitigkeiten mit Mitgliedstaaten. Und da Zypern im Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde, liegt es im eigenen Interesse der Türkei alles zu tun, um dieses Probleme zu lösen.

Von türkischer Seite wird oft kritisiert, es werde bei den politischen Kriterien mit zweierlei Maß gemessen - während bei manchen osteuropäischen Kandidaten große Spielräume akzeptiert worden seien, würden die Kriterien bei der Türkei äußerst restriktiv angewendet. Diese Kritik muss man zurückweisen. Selbstverständlich unterliegen politische Kriterien auch einer politischen Wertung. Die EU hat bei der Aufnahme von Ländern der Größe der Slowakei oder Bulgarien andere Spielräume als bei der Aufnahme der Türkei. Die Türkei ist ein großes Land mit einer hohen Bevölkerungszahl und einer völlig anderen internen Machtkonstellation. Dies muss bei einer Aufnahme berücksichtigt werden, schon im Eigeninteresse der EU und der Türkei. Auch sollte von türkischer Seite nicht ausgeblendet werden, dass die osteuropäischen Länder in den vergangenen zehn Jahren mit der totalitären Struktur des real existierenden Sozialismus weitgehend aufgeräumt haben, während sich die Türkei noch immer an der Rechtsordnung des Putsches von 1980 abarbeitet.

2.8 Ist eine „EU 30+“ noch handlungsfähig?

Die Frage der politischen Handlungsfähigkeit der EU stellt sich bereits heute, angesichts einer Erweiterung von 15 auf 25 Staaten, und nicht erst mit dem Beitritt der Türkei. Deshalb wurde der Konvent zur Erarbeitung einer Verfassung einberufen. Ohne grund-legende Reform der europäischen Institutionen und Politiken wird die jetzige Erweiterungsrunde zu keinem Erfolg führen. Ein späterer Türkei-Beitritt verändert die Problemlage nicht wesentlich. Er könnte im Gegenteil zu einem „Rebalancing“ des Verhältnisses zwischen großen und kleinen Ländern führen. Ab 2004 werden nämlich 19 Länder knapp 20 % der Bevölkerung der EU repräsentieren, während die anderen sechs mehr als 80 % vertreten. Nach Lösungen muss man aber heute suchen – in zehn, fünfzehn Jahren ist es dafür zu spät. Die Türkei macht die EU vielfältiger, bunter, aber nicht handlungsunfähiger, wenn man heute die Reformen beginnt. Die Türkei wird auch mit einem angenommenen Bevölkerungswachstum von jährlich 1,5 bis 1,6 % in einer erweiterten Union zahlenmäßig nicht dominierend. Sie wird im Rat und im Parlament ungefähr die gleiche Größenordnung haben wie heute Deutschland. Das reicht nicht für eine Sperrminorität geschweige denn für eine Majorisierung. Auch die Tatsache, dass sie zu den Nettoempfängern und nicht zu den Zahlern gehören wird, wird sie nicht von dem Problem aller Mitglieder entbinden, nach Bündnispartnern zu suchen und je nach Problemlage mit wechselnden Mehrheiten zu operieren. Die EU – auch das wird die Türkei noch lernen müssen - bedeutet institutionalisierte Rücksichtnahme auf den Konkurrenten und institutionalisierten Verzicht auf reine Machtpolitik.



2.9 Was kostet uns der Beitritt der Türkei?

„Die Türkei ist ein großes Land. In ihrer jetzigen Lage wird sie für die EU eine große finanzielle Belastung darstellen…“. Der große wirtschaftliche Rückstand gegenüber der Kern-EU ist nicht zu bestreiten. Heute befindet sich die Türkei in einer Klasse mit Bulgarien und Rumänien. Eine Angleichung an den EU-Durchschnitt wird Jahrzehnte dauern. Es trifft auch zu, dass der Anteil der Landwirtschaft an der türkischen Volkswirtschaft mit 14,2 % des BIP und 35,4 % der Erwerbstätigen im Vergleich zur EU mit 1,7 % des BIP und 4,2 % der Erwerbstätigen recht hoch ist (allerdings nicht höher als der Polens), und eine niedrige Rentabilität aufweist. Auch das innertürkische Wohlstandsgefälle ist erheblich. Wer allerdings trotz bereits erzielter Fortschritte in Südostanatolien glaubt, die Türkei könne mit Hilfe der EU und internationaler Finanzinstitute wie dem IWF diese Probleme in einer Zeitspanne von gut 20 Jahren nicht in den Griff bekommen, ignoriert die Erfahrungen bisheriger Beitritte. Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission stellt zur wirtschaftlichen Lage der Türkei beispielsweise fest: „Stabilität und Vorhersehbarkeit der Wirtschaftslage haben sich verbessert, der Inflationsdruck ist zwar immer noch hoch, aber kontinuierlich gesunken und die Marktregeln und Institutionen der Türkei wurden modernisiert. Die positiven Auswirkungen der angenommenen und allmählich umgesetzten Strukturreformen haben geholfen, die Folgen der Irak-Krise ohne größere wirtschaftliche Rückschläge zu überstehen“ (Fortschrittsbericht 2003, Seite 151). Bezüglich der finanziellen Folgen eines türkischen EU-Beitrittes wird über Transfers an die Türkei aus dem EU-Haushalt in Höhe von jährlich bis zu 20 Mrd. Euro spekuliert. Diese Zahl ist völlig aus der Luft gegriffen. Sie berücksichtigt weder die Zahlungen von mehreren Milliarden Euro, die die Türkei nach einem Beitritt ihrerseits jährlich an den EU-Haushalt abzuführen hätte, noch den Handelsüberschuss, den die EU und vor allem Deutschland in der Regel im Handel mit der Türkei erzielen. Dass die Türkei die 1996 in kraft getretene Zollunion ohne eine ernsthafte Finanzhilfe der EU verwirklicht hat (die fest zugesagt war), stellt wahrscheinlich den besten Beweis für die Anpassungsfähigkeit der türkischen Wirtschaft dar. Wenn man als jüngstes Beispiel Polen mit seinen 40 Millionen Einwohnern zum Vergleich heranzieht, so erhält es bis Ende 2006 jährlich netto nie mehr als drei Milliarden Euro. Es ist also bei der Türkei – selbst unter Annahme gleich bleibender EU-Politiken, also ohne Reformen in den nächsten zehn Jahren – mit einem jährlichen Nettotransfer von maximal 6 bis 8 Milliarden Euro auszugehen, eher weniger. Und, falls es die EU bis dahin nicht geschafft haben sollte, wird ein EU-Beitritt der Türkei endlich die längst fälligen Reformen in der EU-Agrarpolitik erzwingen.



2.10 Bekommen wir offene Grenzen zur Türkei?

Aus den großen wirtschaftlichen und sozialen Diskrepanzen zwischen der EU und der Türkei wird der Anreiz zu einer starken Arbeitskräftemigration gefolgert, die die betroffenen EU-Mitglieder überfordern würde. Verstärkt würde dies durch die demo-grafische Entwicklung in der Türkei, durch die das Land in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren zum bevölkerungsstärksten EU-Land würde. Dagegen spricht, - dass der Beitrittsprozess der Türkei sich noch über lange Jahre hinziehen und zu entsprechenden Anpassungsprozessen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich schon vor dem Beitritt führen wird; - dass die Erfahrung mit der EU-Süderweiterung (um Portugal, Spanien, Griechenland) bereits gezeigt hat, dass die wirtschaftliche Stabilisierung im Rahmen des Beitrittsprozesses zu einer starken Verringerung der Migration führt; - dass davon auszugehen ist, dass im Rahmen der Beitrittsvereinbarungen mit der Türkei ähnliche Übergangsvereinbarungen bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgeschlossen werden wie bei der Süd- und der jetzigen Osterweiterung (in der Regel sieben Jahre eingeschränkte Freizügigkeit – das bedeutet für die Türkei vermutlich nicht vor 2020). Die türkische Seite hat dazu bereits jetzt ihr Einverständnis signalisiert; - dass die überwiegende Mehrheit der heute in Europa lebenden Türken im Rahmen bilateraler Abkommen dorthin gerufen wurde; - dass viele türkische Familien, nachdem sie finanzielle Grundlagen in der Türkei geschaffen haben, dorthin zurückkehren (allein aus Deutschland kehren jährlich 40.000 türkische Staatsbürger wieder in die Türkei zurück);.-12- - dass zuwanderungswillige Menschen in der Türkei nicht auf einen noch hypothetischen EU-Beitritt warten, um ihren Willen in die Tat umzusetzen. Das bedeutet, dass der formale Akt des Beitritts ohnehin weniger Einfluss auf das Migrationverhalten der Menschen hätte, als weithin angenommen. Viel mehr Bedeutung haben schon existierende informelle Migrationsnetzwerke, über die permanent Zu-, aber auch Abwanderung von Türken stattfindet. Anders als immer wieder behauptet, liegt die Rate des Bevölkerungswachstums in der Türkei nicht bei 2,5 oder gar 3,5 % sondern nur bei 1,5 %. Alle demografischen Projektionen gehen davon aus, dass sich das Bevölkerungswachstum in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei weiter stark abschwächen wird, so dass die Einwohnerzahl in 20 bis 25 Jahren ihren höchsten Stand erreichen und dann bei maximal 80 Millionen Menschen stagnieren wird. Damit erreicht der Bevölkerungsanteil der Türkei in einer erweiterten Union maximal knapp 11 %. Das reicht nach den heutigen Regeln der EU nicht einmal für eine Sperrminorität, geschweige denn für eine Majorisierung der EU-Institutionen. Die Türkei wäre immer darauf angewiesen, mit anderen Staaten Koalitionen zu schmieden, um ihre Interessen in der EU zu vertreten. „Kooperation, Kompromisssuche und Koalitionsbildung dürften in der Regel auch das Verhalten der Türkei in den Gremien der EU bestimmen, wenn sie ihre Interessen zum Tragen bringen will. Eine andere Frage ist, ob sie sich diesem mühseligen politischen Prozess unterwerfen will, der sich nie ohne Abstriche an den eigenen Vorstellungen vollzieht. Doch darüber hätte die Türkei am Ende der Beitrittsverhandlungen selbst zu entscheiden. Die Entscheidung können ihr wohlmeinende Europäer nicht abnehmen.“ (Heinz Kramer, einer der besten deutschen Kenner der Türkei und der EU, in: EU-kompatibel oder nicht?, SWP-Studie S34/2003)

2.11 Was sind die Vorteile eines Türkei-Beitrittes für die EU?

Entlang der Peripherie Europas hat allein das Ziel „EU“ viele Länder stabilisiert und eine Hinwendung zur Demokratie befördert, auch in der Türkei. Diese Stabilisierung war der Beweggrund für die erste Süderweiterung um Griechenland, Spanien und Portugal und ist es heute im Kontext der laufenden Osterweiterung um die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa. Die Geschichte der schwierigen Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland zeigt das Vermittlungspotential, das die EU für die Mittelmeerregion bietet. Bezogen auf die Mitgliedschaft der Türkei geht es zum einen um die Stabilisierung der regionalen Nachbarschaft der EU im östlichen Mittelmeer und den angrenzenden Regionen des Mittleren Ostens und des Kaukasus. Die Türkei kann ferner einen wichtigen Beitrag leisten zur Stabilisierung der Balkanregion. Sie tut es schon heute durch ihre Beteiligung am Balkanstabilitätspakt. Die Konflikte mit Griechenland in der Ägäis und das Zypernproblem lassen sich im Rahmen einer Beitrittsstrategie leichter lösen. Nach den Regeln für den Beitritt (Agenda 2000) müssen Konflikte zum Zeitpunkt des Beitritts gelöst sein. Von der besonderen Bedeutung, die die Mitgliedschaft eines mehrheitlich muslimischen Landes gerade heute mit sich bringen kann, war schon die Rede. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei würde verdeutlichen, dass die EU keinen Kampf der Kulturen will, das europäische Modell von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist auch eine Perspektive für Länder mit muslimischer Bevölkerung. Nicht vergessen sollte man auch die Frage der türkischen Minderheit in Europa. Hier steht auch die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel. Würden die EU-Staaten die vertraglichen Zusicherungen gegenüber der Türkei einseitig brechen, würde dies sicher nicht als Signal für die weitere Integration verstanden werden.




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