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In der Informatik geht es genauso wenig um Computer
wie in der Astronomie um Teleskope.
Edsger W. Dijkstra, niederländischer Informatiker, 1930–2002
Als Erstes muss man sich darüber klar werden, inwiefern die Informatik eine wis
senschaftliche Disziplin ist. In der breiten Öffentlichkeit und auch von vielen
Schulleuten wird unter Informatik in erster Linie die praktische Nutzung von An
wendungsprogrammen wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Präsenta
tionsgrafik verstanden sowie der mannigfaltigen Dienste des Internets. So wichtig
diese Funktionen gerade auch für die Schule sind, diese Sicht greift viel zu kurz.
Sie ist vergleichbar mit der Vorstellung, Physik sei mit Autofahren gleichzusetzen.
Im Kapitel 2 wird der Inhalt der Informatik als eigenständige Wissenschaft im Ein
zelnen dargelegt. Die wesentlichen Punkte werden hier zusammengefasst.
Informatik wird oft als die Wissenschaft von der automatischen Verarbeitung
von Informationen mithilfe von Digitalrechnern betrachtet. Folgt man dieser For
mulierung und vertieft sie, so zeigt sich, dass Informatik eine eigenständige wis
senschaftliche Disziplin ist, die ihre eigenen Fragestellungen verfolgt. Diese ergeben
sich aus der Erforschung der Gesetze der automatischen Informationsverarbeitung.
Ähnlich wie die Natur physikalischen Gesetzen folgt, etwa der Energieerhaltung,
unterliegen auch Informationsverarbeitung und übertragung bestimmten grund
legenden Gesetzen, welche die Grenzen und Möglichkeiten der Informations und
Kommunikationstechnologie bestimmen. Diese bilden das wissenschaftliche Fun
dament der Informatik.
Die Untersuchung dieser Gesetze beruht auf logischmathematischen Modellen
der Berechenbarkeit und der Informationsübertragung, deren Einführung im 20.Jahr
hundert gleichzeitig mit dem Bau der ersten Computer zu den wissenschaftlichen
Höhepunkten jenes Jahrhunderts gehören. Im Gegensatz zu vielen physikalischen
1.2
Informatik: eine Wissenschaft
Argumente
18
Grundgesetzen, die heute dem anerkannten Korpus der Allgemeinbildung zuge
rechnet werden, sind die grundlegenden Ideen der Informatik jedoch bis heute
weitgehend nur Spezialisten vertraut. Sie bilden aber die Grundlage der Infor
mations und Kommunikationstechnologie, genauso wie physikalische Gesetze die
Technologie der Energieumwandlung und verbreitung bestimmen. Aktuelle Com
puter bauen darauf auf und sind nur zeitbedingte Inkarnationen von informations
verarbeitenden Systemen, die auch in anderen Formen vorkommen können und
vorkommen werden, aber den gleichen Gesetzen unterworfen sind.
Die Informatik befasst sich, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, mit von
Menschen geschaffenen Systemen, die wegen der Immaterialität von Programmen
und Daten beliebig komplex werden können. Daher muss die Informatik die Brücke
von den vergleichsweise einfachen logischen und physischen Computerarchitektu
ren zu den komplizierten, vernetzten Systemen in Anwendungen bauen. Das führt
zum typischen Schichtenmodell der Informatik. Zur Bewältigung der Komplexität
führt die Informatik mehrere Abstraktionsstufen von der maschinennahen Sicht
bis zu anwendungsnahen Konzepten ein. Damit können alle Probleme auf der je
weils passenden Abstraktionsstufe angegangen werden. Die Anwendungsprogram
me und die Internetdienste zeigen nur die oberste Schicht, im wörtlichen Sinn die
Oberfläche. Ohne ein Verständnis des Schichtenmodells ist ein tieferer Einblick in
die Informatik unmöglich.
Das Schichtenmodell reflektiert sich auch in einer entsprechenden vertikalen
Gliederung der fundamentalen Prinzipien und Ideen der Informatik. Es können vier
aufeinander aufbauende Themenkreise unterschieden werden:
1 Prinzipien der maschinellen Informationsverarbeitung
Wie können Informationen verarbeitet, gespeichert und transportiert werden,
und welche Grenzen sind dabei zu beachten?
2 Entwurfs- und Konstruktionsprinzipien
Wie können systematisch und zuverlässig automatische Prozesse (Algorithmen)
entworfen werden?
3 Kernmethoden
Welches sind die Grundprobleme quer durch alle Anwendungsgebiete, und mit
welchen Algorithmen lassen sich diese lösen?
4 Anwendungsgestaltung
Wie werden Probleme im Hinblick auf die Bedürfnisse der Benutzer gelöst?
Argumente
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Mehr dazu findet sich in Kapitel 2.
Die obige Gliederung, das Schichtenmodell, kann auch als Grundlage für die
Gestaltung von Lehrinhalten für die Informatik dienen, besonders am Gymnasium.
Dabei soll die Informatik
n
sich an den grundlegenden Prinzipien der Disziplin orientieren,
n
in den unterschiedlichen Abstraktionsstufen, von maschinennahen bis zu an
wendungsorientierten Konzepten, unterrichtet werden,
n
die konstruktiven Aspekte abstrakter Prozesse sichtbar machen,
n
eine Brücke zur konstruktiven Denkweise der technischen und ingenieurwis
senschaftlichen Welt herstellen; diese Brücke kann unter allen gymnasialen
Fächern die Informatik weitaus am besten und direktesten aufzeigen.
Mehr dazu ist in Kapitel 6 zu finden.
Wer diese Sicht der Informatik mit dem heute vermittelten Schulstoff, beson
ders am Gymnasium, vergleicht, stellt rasch fest, dass die Informatik heute nicht
adäquat verankert ist. Vielerorts wird sie als reines Arbeitsinstrument verstanden,
und die Vermittlung des nötigen Anwenderwissens wird in andere Fächer integriert.
Diese immersive Einbettung der Informatik in meist mehrere fachfremde Fächer hat
gravierende Nachteile:
n
Die Informatik wird unvollständig und verfälscht dargestellt.
n
Unnötige Repetitionen machen die Vermittlung unökonomisch und langweilen
gute Schülerinnen und Schüler.
n
Es besteht die Gefahr terminologischer Verwirrung.
n
Der Stoff wird möglicherweise inkompetent vermittelt.
n
Informatikkenntnisse werden als Faktenwissen präsentiert; die Wissenschaft
dahinter wird nicht sichtbar.
Diese Situation ist unbefriedigend und wird der Bedeutung der Informatik nicht
gerecht. Deshalb wird nachfolgend eine angemessenere Rolle der Informatik für
eine moderne Bildung vorgestellt.
Argumente
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