If it should turn out that the basic logics of a machine designed for
numerical solution of differential equations should coincide with
the logics of a machine intended to make bills for a department store,
I would regard this as the most amazing coincidence I have ever
encountered.
Howard Aiken, Computerpionier, 1944
Informatik in jenem wissenschaftlichen Sinn, wie in Kapitel 1.2 beschrieben, wird
im Kontext der Schule oft als Teil der Mathematik gesehen. In diesem Kapitel wird
die Beziehung zwischen Informatik und Mathematik geklärt,
besonders im Hinblick
auf das Gymnasium. Dabei wird gezeigt, dass Informatik nicht einfach ein Teil der
Mathematik ist. Ergänzende Einzelheiten und Überlegungen zu diesem Thema sind
in Kapitel 5 zu finden.
Die Grundlagenkrise der Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte zur
Geburtsstunde der Informatik, als der Mathematiker Alan Turing sein theoretisches
Maschinenmodell (die TuringMaschine) zur Lösung des sogenannten Entschei
dungsproblems, ein fundamentales Problem der MetaMathematik, entwarf. Kurz
danach entstand die grundlegende Architektur des Universalcomputers,
die mit
dem Namen des Mathematikers John von Neumann verbunden ist. Die Genesis des
Computers ist also mit der mathematischen Logik eng verbunden. Computer sind
mathematische Maschinen. Als solche sind sie endliche Strukturen. Ihre Analyse
beruht auf mathematischen Teilgebieten, die klassisch eher vernachlässigt wurden,
nämlich jene der sogenannten diskreten Mathematik. Ohne diese speziellen Aspekte
der Mathematik kann Informatik nicht verstanden werden.
Die Mathematik als definierende, abstrahierende und folgernde Disziplin entwi
ckelte sich im griechischkleinasiatischen Raum an geometrischen Problemen. Da
raus erwuchs das erste axiomatische System. Axiomatik und darauf aufbauende
1.6
Informatik und Mathematik
30
Argumente
31
Deduktion mit dem Beweisen von Theoremen wurden zum Kennzeichen der Mathe
matik. Ihre grossen Erfolge in der Neuzeit konnte die Mathematik aber mit der
Darstellung und Berechnung von physikalischen Phänomenen feiern (z. B. Bewe
gungsgleichungen, Elektrodynamik usw.). Das führte zur Vorrangstellung von kon
tinuierlichen Konzepten und Strukturen (Infinitesimalrechnung), was auch die
relative Vernachlässigung der endlichen Objekte der diskreten Mathematik bis vor
wenigen Jahrzehnten erklärt.
Die Mathematik hat lange ohne die Informatik gelebt und könnte das im
Prinzip auch heute noch. Allerdings ist die Informatik inzwischen zu einer neuen
eigenen Quelle bedeutender (und schwieriger) mathematischer Fragestellungen
geworden. Zusätzlich wird heute die Informatik, wenn auch nicht ohne Bedenken,
für das Führen mathematischer Beweise eingesetzt. Prototyp dafür ist der berühm
te Vierfarbensatz («Jede Landkarte kann mit maximal vier Länderfarben gefärbt
werden»), der noch heute ohne Informatikeinsatz nicht bewiesen werden kann.
Ausserdem ist die Informatik ein unentbehrliches
Instrument für die konkrete
Konstruktion mathematischer Objekte, etwa grosser Primzahlen (für kryptografi
sche Zwecke) geworden.
Mathematik und Informatik haben unter sich eine privilegierte Beziehung. Sie
sind symbiotisch, aber auch komplementär. Dazu ein paar Stichworte:
n
Mathematik war primär durch Phänomene der Natur (Astronomie, Physik usw.)
motiviert, Informatik befasst sich eher mit menschengeschaffenen Systemen
(Unternehmungen, Verkehrssysteme, Kommunikationsnetze usw.).
n
Der Ansatz der Mathematik ist axiomatischdeduktiv mit dem Ziel, Existenz
und Eindeutigkeit von Lösungen sicherzustellen, derjenige
der Informatik ist
beschreibendkonstruktiv mit dem Ziel, effektiv Lösungen zu konstruieren.
n
Die Mathematik befasst sich häufig mit der Erfassung und der Untersuchung
von Aspekten des Unendlichen, während die Informatik mit der Beherrschung
komplexer Endlichkeit beschäftigt ist.
Die Informatik umfasst über diese mathematischen Elemente hinaus zusätzlich
viele Aspekte technischer Natur. Ihre Berechnungen müssen letztlich auf realen
Maschinen ablaufen, Informationsaustausch muss über konkrete Datennetze ge
schehen. Man kann Informatik also nicht einfach auf ein Teilgebiet der Mathematik
reduzieren. Die beiden Fächer
konkurrenzieren sich nicht, sondern ergänzen sich
und bilden mehrfach eine Symbiose.
Aus Sicht des Gymnasiums ist festzuhalten, dass der heutige Mathematikunter
richt die für die Informatik notwendigen Teile von Logik und diskreter Mathematik
Argumente
32
nicht umfasst. In Kapitel 5 wird begründet, warum dieser Teil der Mathematik
besser im Rahmen eines Fachs Informatik aufgehoben wäre, nahe den konkreten
konstruktiven algorithmischen Aspekten der Problemlösung, nahe auch an Proble
men des täglichen Lebens (etwa Suche von Wegen,
von Informationen, Sortieren
von Listen, Koordination von Abläufen, Bildung von Assoziationen usw.). Damit
kann über die Informatik auch der praktische Nutzen der Mathematik als Instru
ment der Problemlösung illustriert werden.
Argumente
33
Nothing tends so much to the advancement
of knowledge as the application of a new instrument.
Sir Humphrey Davy, Chemiker, 1778–1829
Als Grundlagenfach am Gymnasium muss die Informatik einen Einblick in die wis
senschaftlichen Grundlagen der Informationsgesellschaft vermitteln. Das Fach
muss den Bildungszielen des MAR entsprechen, das heisst,
es muss insbesondere
die Voraussetzungen für ein Hochschulstudium schaffen sowie jene Grundlagen
vermitteln, welche die Maturandinnen und Maturanden später zur Übernahme ver
antwortungsvoller Aufgaben in der Gesellschaft befähigen. Dazu können folgende
Bildungsziele für das Fach Informatik formuliert werden:
Das Fach Informatik
n
fördert das Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen der maschinellen
Informationsverarbeitung,
n
bereitet auf den Einsatz der Informations und Kommunikationstechnologie im
Studium vor,
n
schult das algorithmische Denken (Computational Thinking),
n
lehrt den effektiven kontrollierten Umgang mit grossen Datenmengen aus Ex
perimenten und aus dem weltweiten Netz (Internet),
n
schafft die Voraussetzungen für ein aktives Mitgestalten der Informationsge
sellschaft als verantwortliche Bürgerinnen und Bürger,
n
legt die Grundlage für die lebenslange Beherrschung der Instrumente, welche
die Technologie für Beruf und Freizeit
immer weiter entwickelt,
n
verbindet das analytische Denken der Mathematik mit dem algorithmischen
Denken und dem durch Erfahrung geprägten konstruktiven Vorgehen der Inge
nieurwissenschaften.
1.7
Folgerungen für ein Fach
Informatik
Argumente