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Mit dem Begriff Informatik werden in der Öffentlichkeit
unterschiedliche Inhalte
und Vorstellungen verbunden. In erster Linie wird darunter die Anwendung der
verschiedenen Anwendungsprogramme, etwa der Textverarbeitung, der Tabellen
kalkulation, der Präsentationsgrafik usw., verstanden sowie die Benutzung der
mannigfaltigen Dienste des Webs. Das ist im buchstäblichen Sinne eine oberfläch
liche Sicht, weil dabei die eigentlichen Inhalte der Informatik, die diese Angebote
und vieles andere mehr erst ermöglichen, verdeckt sind.
Die Erkenntnisse, Metho
den und Techniken der Informatik, die der Entwicklung der einschlägigen Anwen
dungssysteme zugrunde liegen, sind tief unter der Benutzerschnittstelle versteckt.
Das hat sicher die grosse Verbreitung der Informations und Kommunikationssyste
me in der heutigen Gesellschaft ermöglicht. Umgekehrt verunmöglicht eine völlige
Ignoranz der grundlegenden Prinzipien der Informatik eine kompetente Ausschöp
fung der Möglichkeiten.
Um die Bedeutung einer Bildung in Informatik richtig zu beurteilen, muss man
sich Rechenschaft über den Inhalt der wissenschaftlichen Disziplin als solche ge
ben. In einer ersten Annäherung kann man einschlägige Kurzdefinitionen wie etwa
in Wikipedia zitieren:
«Informatik ist die Wissenschaft von der systematischen Verarbeitung
von Informationen, besonders der automatischen Verarbeitung
mithilfe von Digitalrechnern.»
1
Doch eine Definition allein sagt noch nicht viel über den eigentlichen Inhalt der
Informatik, ihre Fragestellungen und Methoden aus. Es braucht eine eingehendere
Introspektion des Gebietes.
Das soll hier zunächst aus einer historischen Perspektive und dann aus einer
systematisierten Sicht des heutigen Stands der ganzen Wissenschaft geschehen.
Die Ideengeschichte kann klären, welche Motivationen und Gesichtspunkte für die
2.1
Zum Thema
Was ist Informatik?
42
Was ist Informatik?
Entwicklung der Hauptideen der Wissenschaft massgebend waren und damit helfen,
die Hauptprinzipien herauszuschälen, die in einer rein
gegenwartsbezogenen Sicht
vielleicht nicht mehr klar sichtbar sind. Die heutige Sicht stellt die spezifischen
Fragen, welche die Informatik untersucht, in den Vordergrund und beleuchtet da
mit die grundlegenden und langlebigen Erkenntnisse des Gebiets, auf deren Basis
die rasante technologische Entwicklung erst verständlich wird.
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Was ist Informatik?
Die Informatik als Disziplin hat zwei Wurzeln, nämlich eine mathematischlogische
und eine technische. Letztere ist mit den Entwicklungen des Computers als techni
schem Gerät verbunden und betrifft die Ingenieurleistungen,
die unser Leben in
allen Bereichen verändert haben. Erstere entwickelte sich zur Erforschung der prin
zipiellen Möglichkeiten und Grenzen der automatischen Informationsverarbeitung
und deren Gesetze. Das Zusammenwachsen dieser beiden Wurzeln führte zu einer
Synthese von zwei unterschiedlichen Denkweisen, der mathematischexakten und
der technischkonstruktiven, in einem einzigen Fach.
Zur Entwicklung der Rechentechnik
Wenn man sich auf die digitale Rechentechnik beschränkt, also auf Maschinen und
Systeme, bei denen Information in diskreten Einheiten dargestellt und verarbeitet
wird, dann beginnt die Geschichte bei den
mechanischen Rechenmaschinen, wie
sie beispielsweise von Pascal (Pascaline, 1642, Addition und Subtraktion) und Leib
niz (1673, alle vier Grundrechenarten) entworfen wurden. Diese Maschinen beruh
ten auf Zahnradarithmetik. Sie arbeiteten im Zehnersystem bzw. im Zwölfer und
Zwanzigersystem (Pascaline, französische Geldeinheiten Deniers und Sous). Ihre
konzeptuellen Hauptprobleme waren die Zehner bzw. Zwölfer und Zwanzigerüber
tragungen sowie die Verknüpfung der Grundrechenarten bzw. ihre Zurückführung
auf die Addition. Bereits Leibniz wies ausdrücklich auf die grosse Bedeutung dieser
Maschinen für die zuverlässige Berechnung von mathematischen und astronomi
schen Tabellen hin. Den Höhepunkt erreichte das mechanische Rechnen mit der
DifferenzenMaschine und der analytischen Maschine von Babbage (1792–1871).
Die DifferenzenMaschine war ein Spezialrechner für die Berechnung von Polyno
men nten Grades durch Addition aus den konstanten nten Differenzen. Die ana
lytische Maschine sollte die ganze Analysis, so wie sie damals verstanden wurde,
2.2
Die Informatik
aus historischer Sicht
44
abdecken. Sie weist bereits wesentliche Merkmale eines Universalcomputers auf:
zentrale Recheneinheit (Mill) für die arithmetischen Grundoperationen, Speicher
(Store) für die Variablen (Zehnersystem), für Eingabe und Zwischenwerte, freie
Programmierbarkeit und Programmsteuerung mittels Lochkarten ähnlich den
jacquardschen Webstühlen, Ausgabe über Printer bzw. Lochkartenstanzer. Ange
trieben werden sollte die Maschine mit Dampfkraft. Die Maschine wurde nie reali
siert, die mechanischen Probleme waren zu gross und die Konzepte zu wenig aus
gereift. Aber es wurden erste Programme dafür entworfen (besonders von Lady Ada
Lovelace, der Tochter von Lord Byron). Die Tragweite der Universalität der Maschi
ne, dieser grossen neuen Idee, wurde von Babbage
und Lovelace unermüdlich und
aus heutiger Sicht durchaus korrekt hervorgehoben.
Die Grundlagen für den nächsten Schritt wurden von Boole (1815–1864) in der
booleschen Algebra geschaffen. Damit wurde es möglich, die Arithmetik von Binär
zahlen durch binäre logische Schaltungen zu verwirklichen. Die Schalttechnologie
entwickelte sich von mechanischen Einrichtungen (bei der Eisenbahn und dem
ersten Computer von Zuse) über Relais (heute noch im Einsatz in der Bahntechnik),
elektronische Röhren (die ersten Universalrechner), Transistoren bis zu den integ
rierten Schaltungen in modernen Computern. Das führte zu einer Leistungsstei
gerung und Miniaturisierung, die Prozessoren überall einbettbar und damit un
sichtbar werden lassen. Konzeptuelle Hauptprobleme blieben nach wie vor die
Organisation der Stellen, etwa Zehnerübertragungen
bei Additionen, und die Ver
knüpfung der Grundrechenarten. Neu dazu kamen die Fragen der Zahlendarstel
lungen, da das vom Handrechnen bekannte Zehnersystem nicht mehr unbedingt
als geeignet betrachtet wurde, und es nicht mehr ausreicht, mit ganzen Zahlen zu
rechnen (Gleitkommazahlen).
Damit traten auch Probleme der Codierung auf, besonders bei der Informations
übertragung (räumlich in der Kommunikation und zeitlich in der Speicherung).
Das Problem der Codierung von Information wurde um 1940 von Shannon systema
tisch untersucht. Er zeigte, wie Daten durch Elimination
der Redundanz kompakt
und wirtschaftlich gespeichert werden können und wie Information durch Erhö
hung ihrer Redundanz zuverlässig durch beliebig unzuverlässige Kanäle übertragen
werden kann. Er definierte die Kapazität von Kanälen und damit die Grenzen der
Übertragungsleistung. Seine Kodierverfahren waren aber entweder nicht effizient
aus Sicht der Rechentechnik oder nicht optimal. Daher entstand eine neue, auch
heute noch sehr aktive Forschungsrichtung, die sich darum bemüht, mit effizien
ten Verfahren möglichst nahe an die durch Shannon begründeten absoluten Gren
zen zu kommen. Shannons Erkenntnisse bilden die Grundlage für die unglaubli
Was ist Informatik?