Seminar für allgemeine pädagogik


Grundbegriffe und Grundannahmen Luhmanns



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4.5.2 Grundbegriffe und Grundannahmen Luhmanns


Systemtheoretisches Denken ist konstruktivistisches Denken. Grund­begriffe, mit denen die soziale Welt von Luhmann beschrieben wird, sind Komplexität und Kontingenz, System und Umwelt, Sinn und Selektivität, Selbst­organisation und Grenzerhaltung von Systemen.

Eine Schlüsselrolle für das Verständnis vergangener und gegenwär­tiger Ent­wicklungen kommt dem systemtheoretischen Postulat der "Komplexitätssteige­rung in der Zeit" zu: Die­ses Theorem wird sowohl auf die Evolutionsgeschichte und auf die Menschheitsge­schichte, als auch auf den Vorgang der Individualentwick­lung (den So­zialisationsprozeß) an­gewandt.

Die Welt in ihrer Ganzheit erscheint dem Menschen, zumal in der Moderne, als ungeheuer komplex - mit der Tendenz zu ständiger Komplexitätssteige­rung. Ent­lastung erfolgt durch Prozesse der Ausdif­ferenzierung, die das Entste­hen von Teilsystemen und Teilumwelten zur Folge hat. Die zunehmende Selb­ständigkeit und Spezialisie­rung der Teilbereiche im Fortschreiten des gesell­schaftlichen Pro­zesses machen heute die notwendige Integration von gesellschaftlichen Teil-Ent­wicklungen zu übergeordneten Einheiten im­mer schwie­riger, so daß Steuerungs­probleme entstehen: Systembedingte Wider­sprüche und Paradoxien sind die Folge.

Im folgenden wird die Systemtheorie Luhmanns erläutert durch eine Einführung in die Grundbegriffe System-/Umweltdifferenz, Selbstreferenz (Autopoiesis), Komplexität, Kontingenz, Selektion, Sinn.



System-/Umweltdifferenz und Selbstreferenz (Autopoiesis): In seinem kurzen historischen Abriß der Systemtheorie vollzieht Luhmann (1988, S. 15 ff.) den Übergang zur modernen Systemtheorie dort, wo die „Leitdifferenz von System und Umwelt“ zum Grundprinz erhoben wird. Das bedeutet: Das System mit seinen Elementen hat eine definierte Grenze zur Umwelt und keinen Austausch mit ihr. Das System ist ganz auf sich selbst angewiesen. Die einzelnen Elemente des geschlossenen Systems interagieren zwar wechselseitig miteinander, sind aber gleichzeitig immer auf sich selbst zurückbezogen: Geschlossene Systeme sind andererseits insofern offen gegenüber der Umwelt, als sie sich ihre spezifischen Umweltkontakte selbst suchen. Die Umwelt ist also nicht substanziell vorgegeben (wie dies in der Theorie offener Systeme der Fall ist), sondern wird aspekthaft ausgewählt. Die laufende Erneuerung der Systemelemente kann auch zur Emergenz (von lat. emergere = zum Vorschein kommen) neuer Systeme höherer Ordnung führen. Die Elemente des Systems haben die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Luhmann bemerkt dazu:

Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustandekommen kann, das heißt, dadurch, daß die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operatoren auf sich selbst (sei es auf Elemente desselben Systems, sei es auf Operationen desselben Systems, sei es auf die Einheit desselben Systems) Bezug nehmen. Systeme müssen, um dies zu ermöglichen, eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und benützen; sie müssen mindestens die Differenz von System und Umwelt systemintern als Orientierung und als Prinzip der Erzeugung von Informationen verwenden können. [...] Die Umwelt ist ein notwendiges Korrelat selbstreferentieller Operationen, weil gerade diese Operationen nicht unter der Prämisse des Solipsismus ablaufen können (man könnte auch sagen: weil alles, was in ihr eine Rolle spielt, einschließlich des Selbst selbst, per Unterscheidung eingeführt werden muß). Die (inzwischen klassische) Unterscheidung von „geschlossenen“ und „offenen“ Systemen wird ersetzt durch die Frage, wie selbstreferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen kann. (Luhmann 1988, S. 25)

Die grundsätzliche Differenz zwischen System und Umwelt besteht in einem Komplexitätsgefälle. Das System zeichnet sich gegenüber der Umwelt durch einen geringeren Grad an Komplexität aus; es muß sich gegenüber der überwältigenden Komplexität durch ständige Komplexitätsreduktion durchsetzen (vgl. Luhmann 1988, S. 250 f.). Systeme können aufeinander aufbauen. Dabei ist keinesfalls zwingend, daß höhere Systeme komplexer als niedere sind. Der Grad der Komplexität ist Bestandteil selbstreferentieller Entscheidungen innerhalb des Systems.

Die Theorie selbstreferentieller Systeme geht davon aus, daß jede als System bezeichnete Einheit die Fähigkeit besitzt, „Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt“ (Luhmann 1988, S. 31). Da sich die System/Umwelt-Differenz sowohl hinsichtlich der Teilsysteme als auch hinsichtlich des Gesamtsystems ausbildet, ist Systemdifferenzierung selbst ein „Verfahren der Steigerung von Komplexität“ (ebenda, S. 38). Anstelle des Begriffs „Selbstreferentialität“ wird von Luhmann auch der von dem Biologen Humberto Maturana in die Systemtheorie eingeführte Begriff „Autopoiesis“ benutzt.



Komplexität: Komplexität ist als strukturelles Korrelat jener Vielfalt zu ver­stehen, die der Mensch als "Welt" - und zwar als eine in dieser Komplexität nicht beherrschba­ren Welt - erlebt.

Komplexität nimmt zu im Zuge gesellschaftlicher Arbeitsteilung, funktionaler Differenzierung und wachsender Interdependenzen zwischen den Teilen einer Gesellschaft. (Willke 1987, S. 15)

Komplexität bedeutet im Grunde einen Mangel an Orientierung und Information; unser Bedürfnis ist es, diesen Mangel durch Selektion - d.h. Reduktion der Komplexität - zu beseitigen. Komplexität bezeichnet den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes (vgl. Willke 1987, S. 16). Positiv meint Komplexität demnach die Möglichkeiten eines Systems, die durch die möglichen Relationen zwischen den Elementen gegeben sind (und nicht nur durch die 'wirklichen' Relationen). Eine zusammenhängende Menge von Elementen ist komplex, "wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann" (Luhmann 1988, S. 46). Systeme sind insofern komplex, als sie einen „Möglichkeitsüberschuß“ besitzen, der einem Prozeß beständiger selbstselektiver Reduktion ausgesetzt ist. (ebenda, S. 66).

Luhmann macht darauf aufmerksam, daß die überkommene Auffassung von Komplexität nicht mehr gültig sein kann (so wie wir dies mit dem Begriff der „Übersummation“ bei Watzlawick kennenlernten):

Komplexe Systeme standen der älteren Lehre als Ganzheiten vor Augen, die aus Teilen zusammengesetzt sind und durch die Art ihrer Ordnung Qualitäten bzw. Errungenschaften garantieren, die den Teilen für sich allein nicht zukommen könnten. Mit dieser Auffassung bricht die neuere Systemtheorie durch Einführung des Umweltbezugs. Der Umweltbegriff gibt nicht nur den Hinweis, daß es außerhalb des Systems noch etwas anderes gibt. Es geht nicht um die bloße Unterscheidung von „diesem und anderem“. Die These lautet vielmehr, daß die Strukturen und Prozesse eines Systems überhaupt nur in Beziehung auf dessen Umwelt möglich und verständlich sind; ja daß erst der Umweltbezug überhaupt festlegt, was in einem System als Element und was als Beziehung zwischen Elementen fungiert. Etwas forciert kann man deshalb formulieren: das System ist seine Beziehung zur Umwelt, das System ist die Differenz zwischen System und Umwelt. (Luhmann Bd II, 1991, S. 194)

Demgegenüber ist für Luhmann der Begriff der Komplexität ein Relationsbegriff, der trotz seiner Variabilität und Unbestimmtheit die Begrenzung des Systems nach zwei Seiten hin bestimmt:



  1. gegenüber der Umwelt in bezug auf das, was als relevante Umwelt für das System in Frage kommt,

  2. gegenüber dem System in bezug auf die Komplexität erzeugenden Elemente.

Nach Luhmann führt wachsende Komplexität zu verstärktem Selektionszwang: "Das Gesellschaftssystem wird in dem Maße, als seine Komplexität wächst, von segmentärer auf funktional-spezifizierte Teilsystembildung umstrukturiert. Das führt zur Steigerung der Varietät, zur Überproduktion an Möglichkeiten des Erlebens und Handelns ... und damit zu verstärktem Selektionszwang" (Luhmann 1972, Bd. I, S. 139). Der Zusammenhang von Komplexität und Selektion wird durch das Faktum der Zeit als besonders konflikthaft beleuchtet. Die Zeitdimension bewirkt, daß soziale Systeme, auch wenn sie ein stabiles Gleichgewicht besitzen, einem Änderungsprozeß unterworfen sind. Selektions- und Entscheidungszwänge werden durch Zeitdruck erzeugt.

Eine zusammenhängende Menge von Elementen ist komplex, "wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann" (Luhmann 1988, S. 46). Systeme sind insofern komplex, als sie einen „Möglichkeitsüberschuß“ besitzen, der einem Prozeß beständiger selbstselektiver Reduktion ausgesetzt ist. (ebenda, S. 66).

Die Gesellschaft, zumal die moderne Gesellschaft, existiert in einem Prozeß beständiger Ausdifferenzierung. Mit der damit verbundenen Zunahme von Komplexität werden gesellschaftliche Steuerungsprozesse immer schwieriger. Ein Grundmuster der Beherrschbarkeit von "Welt" besteht in der Reduktion von Komplexität. Komplexitätsreduktion ist die Grundfunktion von "Systemen". Als System ist jedes Wirklich-Seiende zu verstehen, das in der Zeit auf Grund ei­ner eigenen - sich gegen­über der übrigen Welt abgrenzbaren - Ordnung seine Identität bewahrt.

Komplexitätsreduktion leistet ein System in mehrfacher Weise: näm­lich durch die Annahme,

1. daß Systembildung per se bereits Komplexitätsreduktion dar­stellt, indem der als "Umwelt" bezeichnete systemrelevante Welt-Aus­schnitt komplexer als das System selbst ist, d.h., die Zahl der möglichen Beziehungen zwischen System und Um­welt größer ist als die Zahl der tatsächlich realisierten Bezie­hungen;

2. daß das System unter dem Zwang der Selektion relevanter Umwelt-Beziehungen - Informationen, Erlebnisinhalten usw. - steht, was gleichzeitig den Ausschluß der nicht aktuali­sierten Beziehungen bedeutet;

3. daß "Sinn" den basalen Orientierungsrahmen für Selektionsleistungen abgibt, die jedes System gleichzeitig als sinnkonstitu­iertes und sinnkonstituierendes Gebilde ausweisen;

4. daß Normen und Regeln als institutionalisierte Erscheinungsformen von "Sinn" den Selektionsprozeß verstärken, indem sie Kon­tingenz einschränken.

5. daß die Operationen innerhalb des Systems Ablaufstrukturen erzeugen, die qua Vollzug die Freiheitsgrade der jeweils nachfolgenden Operationen ver­mindern.

Komplexitätsreduktion stellt keineswegs die einzige Leistung von Systemen dar (vgl. Willke 1987, S. 34). Bedingt durch ihre operative Geschlossenheit, erzeugen geschlossene Systeme eine besondere Dynamik - in mehrfacher Hinsicht:


  • Zur Selektionsleistung, die komplexe Umwelt auf eine der be­grenzten Verarbei­tungskapazität des Systems angemessene Größen­ordnung zu reduzieren, tritt die Selekti­onsleistung, auf Grund bestehender Kontingenz, Handlungsmöglich­keiten zu realisieren, d.h., die Umwelt durch Produktion neuer Wirklichkeiten vom Sy­stem her zu verän­dern. Beide Prozesse sind vielfältig miteinander verwoben, rückgekoppelt und konfliktsensibel.

  • Selbstorganisation von Systemen bedeutet gleichzeitig auch Neuschaffung und damit Zunahme von Komplexität. Komplexitätsre­duktion und -produktion stehen in einem dynami­schen Gleichge­wichtsverhältnis - sowohl zueinander als auch in ih­rem Verhält­nis zu den jeweils relevanten Umwelten.

  • Selbstorganisation von Systemen bedeutet Fähigkeit zur Selbst­steuerung, wel­che "selbstinduzierte Zustandsänderung" im Sinne "bewußter Revision" er­laubt und spon­tane Neubildung von Struk­turen ermöglicht (vgl. Willke 1987, S. 70).

Kontingenz: Der Begriff Kontingenz meint „Zufälligkeit“, „Möglichsein“ im Gegensatz zur Notwendigkeit (lat. contingit = es ereignet sich, es gelingt, es glückt). Kontingenz bezeichnet den zur Komplexität komplementären Sachverhalt, daß auf Grund der Fülle der zur Verfügung stehenden Erlebnis- und Hand­lungsmöglichkeiten in bezug auf die tatsäch­lich vollzogenen Erleb­nis- und Handlungsakte Freiheitsgrade exi­stieren: Man hätte auch anders handeln können, als man tatsächlich handelte. Das schließt ein, daß Menschen die Möglichkeit besitzen, unvorhergesehen, überraschend, variabel zu reagieren. Menschliches Handeln ist in dem Sinne kontingent, als es einen gewissen Grad an Nichtfestgelegtheit, 'Zufälligkeit', besitzt: Man kann so handeln, aber auch anders handeln. Die Dinge können sich so ereignen, wie sie sich ereignen - aber auch anders. Luhman gewinnt den Begriff durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit:

Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. (Luhmann, 1988, S. 152)

Der Horizont von Ereignismöglichkeiten ist, theoretisch gesehen, unendlich groß, faktisch wird er jedoch durch mehrere Faktoren eingeschränkt, z.B. durch Ordnungen, Normen, Institutionen, situative Konstellation und nicht zuletzt durch die Anschlußmöglichkeiten an bestehende Kommunikation. Trotz vorhandener Standards ist der Spielraum für Kontingenz in der modernen Gesellschaft auf Grund ihrer Dynamik sehr groß.

Kontingenz und Komplexität sind - jeweils auf unterschiedliche Weise - Ausdruck der Unüberschaubarkeit und des Begrenzungsbedarfs innerhalb des sich selbst organisierenden Systems. Den Zusammenhang zwischen Kontingenz und Komplexität erläutert Luhmann so:

Unter Komplexität wollen wir verstehen, daß es stets mehr Möglichkeiten gibt, als aktualisiert werden können. Unter Kontingenz wollen wir verstehen, daß die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde... Komplexität heißt also praktisch Entscheidungszwang, Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken. (Luhmann 1972, Bd. I, S, 31)

Kontingenz und Komplexität des Systems führen, so gesehen, zu systemimmanenten Konflikten. Komplexität erzeugt ein Konfliktpotential aufgrund überschüssiger Möglichkeiten der Umwelt, die unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Systems reduziert werden müssen. Kontingenz dagegen erzeugt Konflikte innerhalb eines Systems auf Grund von Alternativen, die im Hinblick auf bestimmte Umweltbedingungen vom System zu bewerten und zu entscheiden sind. Im ersten Fall (Komplexität) geht es um die Reduktion von Umweltereignissen auf ein für das System bearbeitbares oder auf ein bewußt angestrebtes Maß; dies geschieht durch Selektion und Sinnbestimmung. Im zweiten Falle (Kontingenz) geht es um die Reduktion von Risiken und Gewinnung von Sicherheit auf Grund der im System erarbeiteten Möglichkeiten.

Unter dem Gesichtspunkt der Handlungsfähigkeit erzwingt Komplexität die Aggregation von Umweltdaten und die Ausfilterung des für das System nicht Wesentlichen. Konflikte entstehen also auf der Input-Seite des Systems über die Frage, was relevant und was nicht relevant sei. Kontingenz dagegen erzeugt Konflikte auf der Output-Seite des Systems über die Frage, welche Handlungsmöglichkeit für das System günstiger und somit vorzuziehen sei. (Willke 1987, S. 23)

Beide Konflikttypen sind in der sozialen Wirklichkeit eng miteinander verwoben und die ihnen zu Grunde liegenden Prozesse durch Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden (Willke 1987, S. 26). Mit der Einführung des Kontingenzbegriffs distanziert sich Luhmann gleichzeitig von den traditionellen - auch von Watzlawick benutzten - systemischen Termini wie „Wechselwirkung“, „doppelte Spiegelung“ oder „Reziprozität der Beziehungen“. Für Luhmann steht am Anfang des sozialen Systems die doppelte Kontingenz als allein ausschlaggebender strukturbildender Faktor:

Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. Das ist mit dem Grundbegriff der Handlung nicht zu fassen. (Luhmann 1988, S. 154)

Sinn: Psychische und soziale Systeme haben die Fähigkeit, selbst Komplexität zu erzeugen, sie sind autopoietische Systeme. Während Tiere instinktgesteuert sind und der Sinn dieser Instinktsteuerung im Überleben der Art liegt, sind hochkomplexe Individual- und Sozialsysteme der Gattung Mensch sinngesteuert. Die Geschlossenheit selbstreferentieller Systembildung bedeutet gleichzeitig „Offenheit der Welt“ (Luhmann 1988, S. 96). Die Welt ist sinnoffen: „Wenn es nichts zu sagen gibt, muß man eben etwas erfinden“ (ebenda, S. 99). Sinn kann emergieren, kann etwas Neues erzeugen. Im gleichen Zusammenhang betont Luhmann die basale Instabilität des Sinnes, die „in der Unhaltbarkeit seines Aktualitätskerns“ liege. Erst im Horizont von Möglichkeitsanzeigen gewinnt Aktuelles Sinn:

Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erlaubt mithin eine zeitlich versetzte Handhabung und damit ein Prozessieren der jeweiligen Aktualität entlang von Möglichkeitsanzeigen. Sinn ist somit die Einheit von Aktualisierung und Virtualisierung, Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozeß. (Luhmann 1988, S. 100)

Nach Luhmann ist in aller Sinnerfahrung die Differenz des aktuell Gegebenem und dem Möglichkeitshorizont des Gegebenen. Dabei verweist Sinn immer wieder auf Sinnhaftes und kann nicht außerhalb seiner selbst stehen. Nur durch Verweisung auf jeweils anderen Sinn gewinnt Sinn aktuale Realität. Luhmann (1988, S. 96) definiert Sinn als eine „unnegierbare“, „differenzlose“ Kategorie; es zeigt sich hier eine interessante Parallelität zu Watzlawicks These, Verhalten besitze keine Negation. Sinnlosigkeit, sagt Luhmann, setze Sinn voraus. Deshalb ist von „Sinnzwang“ zu sprechen, da Sinn allen Prozessen in psychischen und sozialen Systemen auferlegt ist (Luhman 1988, S. 95).

Sinn beinhaltet nach Luhmann eine selektive Beziehung zwischen System und Umwelt: Intersubjektiv geteilter Sinn grenzt systemspezifisch ab, was als sinnvoll und was als sinnlos zu gelten hat. Die Sozialpsychologie hat für einzelne Sinnzusammenhänge Konzepte wie Rolle, Norm, Wert, kognitive Struktur, Ideologie, Weltbild u.a. entwickelt. Auch die symbolischen Codes wie Sprache, Recht, Moral, Geld u.a. sind sinnstiftend, strukturieren Handlungszusammenhänge und steuern Interaktionsprozesse (vgl. Willke, 29 ff.).



def. Sinn ist als Ordnungsform der Welt und des sozialen Handelns zu verstehen, die Systemgrenzen markiert. Die gemeinsame sinnhafte Orientierung wechselseitig verstehbaren Handelns ist Grundbedingung für soziale Interaktionen. (Luhmann 1988, S. 101)

Die durch Sinn erzeugte Ordnungsform entsteht nicht dadurch, daß einzelnen Personen oder Dinge qua Sinnzuweisung ihre Identität konstituieren, wie dies unserem Alltagsverständnis entspricht. Bei Luhmann ist Sinn vielmehr das Medium, mit dem Differenzen organisiert werden. Oben war die Rede von der Differenz zwischen möglicher und aktuell realisierter Erfahrung. Die weitere „Differenzierung der Differenzen“ führt bei Luhmann zur Unterscheidung von drei Sinndimensionen: der Sachdimension, der Zeitdimension und der Sozialdimension:

Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt... Hier liegt der Grund dafür, daß wir auch die Dekomposition des Sinnes schlechthin nicht nur als Differenz, sondern als Dekomposition in Differenzen vorfinden. Wir werden diesen Befund durch den Begriff der Sinndimensionen bezeichnen und unterscheiden Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. (Luhmann 1988, S. 112)

Während die Zeitdimension auch die Sonderform der Geschichte einschließt, sind in der Sachdimension die Themen der Kommunikation präsent. Themen wiederum gliedern sich in Beiträge, deren kleinste Einheit die Information darstellt.



Information: Luhmann (ebenda, S. 102) versteht Sinn als „Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen“, als „Sich-selbst-Prozessieren“. In dem Zusammenhang taucht die Frage auf, was denn prozessiert werde. Luhmanns Antwort besteht in der Einführung des Informationsbegriffs:

Als Information soll hier ein Ereignis bezeichnet werden, das Systemzustände auswählt. Das ist nur an Hand von Strukturen möglich, die die Möglichkeiten begrenzen und vorsortieren. Information setzt also Struktur voraus, ist aber selbst keine Struktur, sondern nur das Ereignis, das den Strukturgebrauch aktualisiert. Ereignisse sind ... zeitpunktfixierte Elemente. Sie kommen nur einmal und nur in einem für ihr Erscheinen nötigen Kleinstzeitraum (specious present) vor. Sie sind durch dies zeitliche Vorkommen identifiziert, sind also unwiederholbar. Eben dadurch eignen sie sich als Elementareinheit von Prozessen. Gerade das läßt sich nun an Informationen gut belegen. Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr. Sie behält in der Wiederholung ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert. Man liest in einer Zeitung: die DM sei aufgewertet worden. Wenn man dasselbe dann in einer anderen Zeitung nochmals liest, hat diese Aktivität keinen Informationswert mehr (sie ändert den eigenen Systemzustand nicht mehr), obwohl sie strukturell dieselbe Selektion präsentiert. Andererseits geht die Information, obwohl sie als Ereignis verschwindet, nicht verloren. Sie hat den Systemzustand geändert, hat damit einen Struktureffekt hinterlassen, und das System reagiert dann auf diese geänderten Strukturen und mit ihnen. (vgl. Luhmann 1988, S. 102)

Es gehört zur Besonderheit von Information, daß sie auf selbstreferentielle Systeme angewiesen ist. Information führt zu einer Systemänderung, ohne daß das verarbeitende System dadurch festgelegt ist. Die aus der Information resultierenden Folgen unterstehen vielmehr der Selbstbearbeitung des Systems. Information bedeutet einerseits Komplexitätsreduktion, indem ihr Inhalt alle anderen Möglichkeiten ausschließt, andererseits kann damit gleichzeitig auch Komplexitätssteigerung verbunden sein, etwa wenn sie außerhalb des Erwartungshorizontes steht und Neuheit konstitutiert, also Unsicherheit vergrößert und Neuorientierung erforderlich macht (Luhmann 1988, S. 103 f.).

Luhmann unterscheidet Erleben und Handeln. Beide Kategorien sind verschieden durch die „Zurechnungsrichtung“ der Sinnselektion, die sie vollziehen: beim „Erleben“ wird die Sinnselektion der Umwelt (d.h. dem Subjekt) zugerechnet. Handeln bezeichnet demgegenüber die Sinnselektion des Systems.

Die Zurechnung als Erleben, was Erleben von Handeln miteinschließt, dient der Sinnreproduktion... Die Zurechnung als Handeln, was Erleben vorbereitendes, Erleben suchendes Handeln einschließt, dient der Reproduktion des sozialen Systems, indem sie Ausgangspunkte für weiteres Handeln festlegt. Man kann auch sagen: Erleben aktualisiert die Selbstreferenz von Sinn, Handeln aktualisiert die Selbstreferenz sozialer Systeme. (Luhmann 1988, S. 124)

Zu klären wäre das Verhältnis von Handeln und Kommunikation. Handlungen bilden bei Luhmann Grundelemente der Kommunikation. Handlungen sind Ereignisse, aber sie sind in ihrer Summe nicht Kommunikation. Luhmann geht vielmehr aus von Kommunikation als einem zwischen Ego und Alter sich vollziehenden Geschehen, dessen letzte Elemente Handlungen bilden, die auch in der Form von Mitteilungen auftreten können. Nur unter dieser Bedingung kann Luhmann (1988, S. 127) sagen: „Auf der Basis des Grundgeschehens von Kommunikation konstituiert sich ein soziales System demnach als Handlungssystem.“ Handlungen haben Einfluß auf die Kommunikation auf Grund der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Absichten und Ziele.

Wenn Habermas Kommunikation als eine spezifische Form des Handelns betrachtete, d.h. die Kommunikationstheorie als eine Sonderform der Handlungstheorie darstellte, so liegen die Verhältnisse bei Luhmann ganz anders: Kommunikation wird bei Luhmann nicht als eine Kette von Handlungen begriffen. Handlungen sind für Luhmann als Systemelemente für die Asymmetrien im Kommunikationsprozeß verantwortlich.

Für sich genommen verläuft Kommunikation nach Luhmann symmetrisch: Jeder Kommunikationsinhalt - jede Selektion, wie Luhmann sagt - kann andere Inhalte dominieren, die Rangpositionen der Bedeutsamkeit von Themen können wechseln, die Kommunikationen sind jederzeit anpassungsfähig und reversibel. Erst wenn Handeln als Einflußgröße im Kommunikationsprozeß ins Spiel kommt, wird Kommunikation asymmetrisch, erhält sie Richtung, wird von unterschiedlichen Interessen der Kommunikanten bestimmt. Mitteilen ist Handeln. Deshalb wird - von Moment zu Moment - Handeln „zur notwendigen Komponente der Selbstreproduktion des Systems“ (Luhmann 1988, S. 227). Darüber hinaus kann Handeln immer auch Thema der Kommunikation sein.


4.5.3 Kommunikation als unwahrscheinliches Ereignis


Nach der Explikation wesentlicher Grundbegriffe können nun Stellung und Funktion von Kommunikation innerhalb der Theorie der sozialen Systeme Luhmanns bestimmt werden. Während Watzlawick sich der Systemtheorie bediente, um Kommunikation einen neuen theoretischen Bezugsrahmen zu geben, bedient sich Luhmann in seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme des Kommunikationsbegriffs, um ihm in diesem Rahmen einen zentralen Stellenwert zuzuweisen. Soziale Systeme funktionieren allein durch Kommunikation (nicht etwa durch das Handeln der Menschen).

Abgrenzungen und Definitionen: Luhmann (1993, S. 25) unterscheidet zwei Arten von wissenschaftlichen Theorien. Der eine Theorietyp „fragt nach den Möglichkeiten der Verbesserung der Verhältnisse“. In unserer eigenen Darstellung können sowohl die Diskurstheorie Habermas als auch alle therapeutischen, zur Kommunikationsverbesserung eingesetzten Konzeptionen (vgl. Abschnitt 7) diesem Theorietyp zugeordnet werden. Die zweite Art von Theorie beginnt nach Luhmann „mit einer These der Unwahrscheinlichkeit“. Sie löst „die Routineerwartungen und die Sicherheiten des täglichen Lebens auf und nimmt sich vor zu erklären, wie Zusammenhänge, die an sich unwahrscheinlich sind, dennoch möglich, ja hochgradig sicher erwartbar werden“ (ebenda, S. 25). Auf diesen zweiten Theorietypus bezieht sich Luhmann ausschließlich - gerade auch im Zusammenhang des Begriffs „Kommunikation“.

Luhmann hält es für unzweckmäßig, Kommunikation mit ‘Übertragung von Nachrichten oder Informationen’ gleichzusetzen. Damit würde die Aufmerksamkeit der Analyse auf den „Mitteilenden“ (Sender) gelenkt werden. Für Luhmann ist dagegen primär der Empfänger interessant. Er nennt ihn in seiner Analyse Ego, während der Sender als Alter fungiert; Ego und Alter sind allerdings nicht als Subjekte, sondern als (psychische oder soziale) Systeme zu verstehen.

Die Kommunikation verändert den Zustand von Ego nicht nur durch die Information selbst, sondern durch die vorausgehende Entscheidung für die Annahme oder Ablehnung der Kommunikation. Auch wenn Alter die Ablehnung von Ego antizipiert und der Gefahr der Ablehnung durch Kommunikationsvermeidung begegnet, ist die wahrgenommene Differenz eine Form der Selbstkorrektur des Systems. Anders als bei Watzlawick sind das Annehmen oder Ablehnen von Kommunikation für Luhmann (1988, S. 204) nicht Bestandteile des kommunikativen Geschehens. Es handelt sich vielmehr um Anschlußakte. Während Watzlawick nur trivial behaupten konnte, auch beabsichtigte Nichtkommunikation sei Kommunikation, argumentiert Luhmann sehr viel differenzierter, indem er auf den Selektionscharakter von Annehmen/Ablehnen für den Fortgang des Kommunikationsprozesses verweist. Annahme und Ablehnung können sich auch auf den Inhalt einer mitgeteilten Information beziehen. Ego kann der Information beipflichten, kann sie aber auch negieren, z.B. durch ein Gegenargument. Hier zeigt Luhmanns Kommunikationskonzept Anschlußmöglichkeiten an die Argumentationstheorie, die Watzlawick nicht kennt.

Wenn Kommunikation das Ziel impliziert, eine Zustandsänderung zu erreichen, dann wird diese Leistung durch den Vorgang des Verstehens bewirkt, die allerdings nicht Teil der Kommunikation ist, sondern einen Anschlußakt darstellt.



Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion. Sie selegiert freilich nicht so, wie man aus einem Vorrat das eine oder das andere herausgreift. Diese Ansicht würde uns zur Substanztheorie und zur Übertragungsmetaphorik zurückbringen; sie konstituiert das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich als Information. Das, was sie mitteilt, wird nicht nur ausgewählt, es ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt. (Luhmann 1988, S. 194)

def. Kommunikation ist danach ein völlig eigenständiger, autonomer, selbstreferentiell-geschlossener Vorgang des Prozessierens von Selektionen, die ihren Charakter als Selektionen nie verlieren. (ebenda, S. 205)

Kommunikation als Einheit einer dreifachen Selektionsleistung: Kommunikation als Prozessieren von Selektion beinhaltet einen Prozeß, der mehrfach gestaffelt ist. Die Tatsache, daß Information den Inhalt von Kommunikation ausmacht, beinhaltet „Selektion der Selektion“ in einem dreifachen Sinn:

  • die Selektion der Information selbst (Auswahl aus mehreren Möglichkeiten);

  • die Selektion ihrer Mitteilung (Mitteilung der Information von einem Sender an einen Empfänger);

  • die Erfolgserwartung des Empfängers (Erwartung einer Annahmeselektion).

Punkt 2 und 3 sind nichts anderes als das, was im allgemeinen Kommunikationsmodell Codierung und Decodierung bilden. Luhmanns These, Kommunikation sei ein hochselektiver Prozeß steht der Grunderkenntnis Watzlawicks nahe, daß Kommunikation (im Sinne eines tatsächlichen Verstehens) ein unwahrscheinliches Ereignis darstelle. Bei Luhmann wird Kommunikation theoretisch als ein Problem betrachtet, weil grundsätzliche Barrieren auftreten, die gelungene Kommunikation - Verstehen - fast unmöglich erscheinen lassen. Dazu führt Luhmann aus:

  1. Als erstes ist unwahrscheinlich, daß einer überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt.

  2. Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind. Das Problem liegt in der räumlichen und zeitlichen Extension. Das Interaktionssystem der jeweils Anwesenden garantiert in praktisch ausreichendem Maße Aufmerksamkeit für Kommunikation, und es zerbricht, wenn man erkennbar kommuniziert, daß man nicht kommunizieren will. Über die Grenzen dieses Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden Regeln jedoch nicht erzwungen werden. Selbst wenn die Kommunikation bewegliche und zeitbeständige Träger findet, wird es daher unwahrscheinlich, daß sie Aufmerksamkeit voraussetzen kann. In anderen Situationen haben die Leute etwas anderes zu tun.

  3. Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird, ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen wird. Mit kommunikativem „Erfolg“ meine ich, daß der Empfänger den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an die Selektion weitere Selektionen anschließt und sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt. Annehmen als Prämisse eigenen Verhaltens kann dabei bedeuten: Handeln nach entsprechenden Direktiven, aber auch Erleben, Denken und weitere Kognitionen Verarbeiten unter der Voraussetzung, daß eine bestimmte Information zutrifft. (Luhmann 1993, Bd.III, S. 26 f.)

Merke: Für Luhmann ist Kommunikation theoretisch ein unwahrscheinliches Ereignis, dessen Gelingen durch Setzung von weiteren Unwahrscheinlichkeiten (Kontingenzen und Differenzen) in seiner Wahrscheinlichkeit steigt und deshalb praktisch realisierbar wird; für Watzlawick ist, ausgehend von der Kommunikationskompetenz Schizophrener, Kommunikation als gelungene Verständigung praktisch unwahrscheinlich, theoretisch ist sie - wie es das erste Axiom ausdrückt - allgegenwärtig: Man kann nicht nichtkommunizieren.

Im Zusammenhang mit „Nichtnichtkommunzieren“ verweist Luhmann auf Watzlawick et al. Obwohl er zunächst Watzlawicks erstes Axiom akzeptiert (vgl. Luhmann, Bd. 2, 1991, S. 8), schränkt er es später mehrfach ein (vgl. Luhmann, Bd. 3, 1993, S. 27): Erstens entwertet Luhmann Watzlawicks wichtigstes Axiom durch den Hinweis, daß über den Inhalt des Nichtnichtkommunizierens - verständlicherweise - gar keine Aussage zu treffen ist (Inhalte, „Themen“, sind ein zentrales Moment in Luhmanns Kommunikationsbegriff). Zweitens macht Luhmann deutlich, daß Kommunikation durchaus dann unterbleibt, „wenn ihr Erfolg „nicht ausreichend als gesichert“ betrachtet wird (ebenda, S. 27). Drittens verweist Luhmann darauf, daß Kommunikation sich gerade dadurch auszeichne, „daß sie eine Situation für Annahme bzw. Ablehnung öffnet“ (Luhmann 1988, S. 204 Fußn.): „Themen sind ablehnbar, Beiträge sind ablehnbar“ (ebenda, 1988, S. 216). Anders als Watzlawick unterscheidet Luhmann sehr genau zwischen Kommunikation und Nichtkommunikation (streng genommen ist nach Watzlawick Nichtkommunikation unmöglich).

Die drei genannten Kommunikationsbarrieren verstärken sich wechselseitig und können nicht einfach abgebaut werden. Aus Luhmanns Perspektive müßten sich deshalb alle psychologischen Theorien, die die Möglichkeit einer direkten Kommunikationsverbesserung beinhalten - wie wir sie in den Abschnitten 5 und 7 darstellen - den Vorwurf der naturwüchsigen Naivität gefallen lassen. Luhmann erklärt lapidar:

Dies Gesetz, daß Unwahrscheinlichkeiten sich wechselseitig verstärken und Problemlösungen in einer Hinsicht die Möglichkeiten in anderen Hinsichten limitieren, bedeutet, daß es keinen direkten Weg zu immer besserer menschlicher Verständigung gibt. (Luhmann, Bd. III, 1993, S. 27)

Kommunikation setzt Nichtidentität der an ihr Beteiligten voraus, daher auch Differenz der Perspektiven und daher auch Unmöglichkeit vollkommener Kongruenz des Erlebens. (Luhmann, Bd. II, 1991, S. 172)

Die Differenz der Perspektiven wird strukturell dadurch erzeugt, daß die Sprache für jeden geäußerten Sachverhalt die Möglichkeit der Negation bereithält. „Ob kommunikativ bejaht oder verneint wird, hängt dann nicht mehr direkt von den Vorkommnissen in der Umwelt, sondern von intern steuerbaren Prozessen der Selektion ab“ (ebenda, S. 173). Watzlawick verdeutlichte anhand praktischer Einzelfälle, inwieweit die Lösung eines Kommunikationsproblems das eigentliche Problem bedeutet. Luhmann kann die Dynamik dieses Paradox theoretisch sehr viel besser als Phänomen unserer Zeit demonstrieren: daß die Zunahme an Kommunikation im Zuge fortschreitender Modernisierung in exponentiell ansteigendem Maße gegenläufige Effekte hervorbringt, d.h. ein Mehr an Konflikten, Desinformation, Kommunikationsproblemen und Belastungen die Folge ist. In diesem Kontext ist Luhmanns Skepsis gegenüber einer Verbesserung von Kommunikation durch soziale Netze, Beratung usw. zu sehen.

In diesem Zusammenhang ist wichtig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, daß Luhmanns Systemtheorie die traditionelle Bestimmung des Sozialen als Beziehung zwischen Individuen nicht kennt. Jedes Verhältnis einer Entsprechung von Ego und Alter, wie sie anthropologische Bezeichnungen der „Duhaftigkeit“, der Dialogfähigkeit oder des wechselseitig Aufeinanderverwiesenseins des Menschen nahelegen, sind hier fehl am Platz. Rogers’ Grundprinzipien der klientenzentrierten Gesprächsführung - wie Echtheit des eigenen Verhaltens, Wertschätzung des anderen, einfühlendes Verstehen - sind für Luhmann allenfalls einseitige Selektionsleistungen seitens Ego. Die grundsätzliche Andersartigkeit und Unerreichbarkeit von Alter, die Luhmann mit dem doppelten Kontingenzbegriff postuliert, beläßt beabsichtigte Gespräche auf der Grundlage solcher „Beratervariablen“ immer im Bereich der Unsicherheit und Selbsttäuschung.

Steigerung von Wahrscheinlichkeit durch Setzung von Unwahrscheinlichkeit: Angesichts der beschriebenen Problemlage muß Luhmann sich fragen lassen - und er stellt sich die Frage selbst -, wie es zugehen könne, daß einerseits Kommunikation unwahrscheinlich sei, andererseits soziale Systeme nicht ohne Kommunikation existieren können. Die Aufgabe hieße, die generelle Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation in eine punktuelle Wahrscheinlichkeit zu transformieren.

Luhmann löst dieses Problem, indem er das Verstehen nicht als eine Leistung des kommunikativen Handelns von Subjekten, sondern als einen doppeltkontingenten selbstreferentiellen Prozeß der Differenzbildung definiert.

Als einmaliger Akt würde Kommunikation unrealisiert bleiben bzw. einen vorzeitigen Abbruch darstellen. Dies passiert im Fall einer Störung oder einer Verständnisschwierigkeit. Einzelkommunikation ist ferner als Warnruf, Hilferuf, als Kauf einer Kinokarte möglich, setzt dann immer einen spezifischen Kontext voraus. Die Regel ist jedoch, daß jede Kommunikation mit der Erwartung von Anschlußverhalten operiert: „In jedem Falle ist jede Einzelkommunikation, sonst würde sie gar nicht vorkommen, in den Verstehensmöglichkeiten und Verstehenskontrollen eines Anschlußzusammenhanges weiterer Kommunikationen rekursiv abgesichert“ (Luhmann 1988, S. 212). Kommunikation ist auf Anschlußkommunikation angewiesen.

Abgesehen von den Anschlußmöglichkeiten existiert im Interaktionsprozeß eine ganze Reihe von Variablen, die Kommunikation sichern, also wahrscheinlicher machen. Dazu gehört, daß bei aller Sensibilität, Unsicherheit und Risiken der Kommunikationsprozeß gleichzeitig ein hohes Maß an Redundanz beinhaltet. Schon unsere Sprache ist - aus Sicherheitsgründen - in vielfältiger Weise redundant. Ferner ist zu verweisen auf die verschiedenen Schematismen der Interaktion (Luhmann Bd. III, 1991, S. 81 ff.), die dazu führen, daß hochkontingente Ausgangslagen dennoch zu Kommunikation bzw. zum Verstehen führen. Es gibt Konditionierungen, Gewohnheiten, standardisierte Interaktionskontexte, die die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation erhöhen, ja fast unausweichlich zu machen scheinen, allerdings die Grundtatsache der doppelten Kontingenz (einschließlich des Mißlingens von Kommunikation) nicht grundsätzlich ausschalten. Luhmanns diesbezügliche Ausführungen zur „Kommunikation über Kommunikation“ (die er reflexive Kommunikation nennt) sind parallel zu Watzlawicks Begriff der Metakommunikation zu lesen:

Wenn man weiß und in Rechnung zu stellen hat, daß Verstehen kontrolliert wird, kann man Verstehen auch vortäuschen; und man kann das Vortäuschen von Verstehen durchschauen, aber gleichwohl vermeiden, dies Durchschauen in den Kommunikationsprozeß einfließen zu lassen; und man kann auf einer Metaebene darüber kommunizieren, daß über Vortäuschen und Durchschauen nicht kommuniziert werden darf, und auch auf diese Ebene wieder Verständigung kontrollieren. Vor allem aber gibt das laufende Konfirmieren der Kommunikation mehr oder wenig häufig Anlaß zur Kommunikation über Kommunikation. (Luhmann 1988, S. 199)

In sprachlicher Kommunikation ist die reflexive Rückwendung auf die Kommunikation selbst so leicht verfügbar, daß es besonderer Sperren bedarf, um sie auszuschließen. Solche Sperren rasten ein bei bewußt metaphorischem Wort- oder Bildgebrauch, bei beabsichtigten Zweideutigkeiten, bei Paradoxien, bei humorvollen, witzigen Wendungen. Solche Sprachformen übermitteln zugleich das Signal, daß eine Rückfrage nach dem Warum und Wieso keinen Sinn hat. Sie funktionieren nur im Moment - oder sie funktionieren überhaupt nicht. (ebenda, S. 211).

Im Zentrum des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs stehen die Termini Information, Mitteilung und Verstehen. Die entscheidende Differenz, von der man im Verständnis Luhmanns auszugehen hat, ist die Differenz zwischen Information und Mitteilung. Als „Mitteilung“ bezeichnet Luhmann das dem Kommunikationsvorgang vorgeschaltete Angebot von Alter. Kommunikation realisiert sich erst dadurch, daß diese Anregung, dieser Selektionsvorschlag, von Ego tatsächlich aufgegriffen und realisiert wird.

In die Differenz zwischen Mitteilung und Information kann Watzlawicks Unterscheidung von Beziehungs- und Inhaltsaspekt nur unvollkommen eingebracht werden, da Luhmann nicht personbezogen argumentiert; bei beiden Autoren - so könnte man eine gemeinsame Plattform suchen - geht es um die Unterscheidung von Daßheit und Washeit der Kommunikation. Während bei Watzlawick der Beziehungsaspekt gleichsam unabwendbar ist, räumt Luhmann die Möglichkeit ein, daß Kommunikation gegebenenfalls gar nicht erst eröffnet wird. Wenn Kommunikation zustande kommt, handelt es sich nach Luhmann immer um einen emergenten Prozeß. Gelingende Kommunikation realisiert sich als Einheit von Information, Mitteilung, und Verstehen, die wiederum, wie oben dargestellt wurde, jeweils als eigenständige Selektionsleistungen zu sehen sind:



  • Jede Mitteilung ist eine Selektionsofferte, das Kommunikationsangebot anzunehmen oder abzulehnen;

  • jede mitgeteilte Information ist eine Selektionsofferte, ihrer inhaltlichen Aussage zuzustimmen oder aber sie abzulehnen (zu kritisieren, abzuwägen usw.);

  • jedes Verstehen setzt eine Selektionsofferte der mitgeteilten Information voraus, ihren Sinn zu bestätigen oder in Frage zu stellen (zu interpretieren oder ihn gegebenenfalls als unverständlich zu klassifizieren).

Mit dem Begriff „Offerte“ ist deutlich gemacht, daß hierbei eine doppelte Kontingenz – die Kontingenz beider kommunizierender Systeme - gegeben ist, die trotz vorhandener Alltagsroutinen und Ordnungsmuster dem Kommunikationsprozeß ein dynamisches Moment verleiht.

Wenn im Systemverständnis Luhmanns der Mensch nicht nur als „Umwelt“, sondern auch als Beobachtersystem (mit der Möglichkeit der Systemkontrolle und der Veränderung) auftritt, so kann dies am Beispiel von Kommunikation besonders einleuchtend dargestellt werden. Menschliche Kommunikation vollzieht sich einerseits durch Sprache, die gegenüber bloßer Wahrnehmung Differenzierungen im Sinne lexikalisch präziser Identifikation erlaubt. Kommunikation vollzieht sich andererseits durch Selbstwahrnehmung der psychischen Systeme. Nicht die Wechselseitigkeit dieser Selbstwahrnehmung, sondern die mit ihr gesetzte Differenz ist für Luhmann entscheidend:

Im Unterschied zur bloßen Wahrnehmung von informativen Ereignissen kommt Kommunikation nur dadurch zustande, daß Ego zwei Selektionen unterscheiden und diese Differenz seinerseits handhaben kann. Der Einbau dieser Differenz macht Kommunikation erst zur Kommunikation, zu einem Sonderfall von Informationsverarbeitung schlechthin. Die Differenz liegt zunächst in der Beobachtung des Alter durch Ego. Ego ist in der Lage, das Mitteilungsverhalten von dem zu unterscheiden, was es mitteilt. Wenn Alter sich seinerseits beobachtet weiß, kann er diese Differenz von Information und Mitteilungsverhalten selbst übernehmen und sich zu eigen machen, sie ausbauen, ausnutzen und zur (mehr oder weniger erfolgreichen) Steuerung des Kommunikationsprozesses verwenden. (Luhmann 1988, S. 198)

Nur deshalb können wir Paradoxe und Mehrdeutigkeiten identifizieren, die starke Anforderungen sowohl an das Verständnis als auch an die reflexive Kommunikation (Metakommmunikation) stellen. Luhmann hat einen offenen Blick für die Differenz von Kommunikationsebenen, wie sie etwa in der Differenz von „meinen“ und „sagen“ zum Ausdruck kommt. Die folgenden dialektisch-paradox gefärbten Sätze Luhmanns, könnten auch von Watzlawick stammen:

Man braucht nicht zu meinen, was man sagt (zum Beispiel, wenn man „guten Morgen“ sagt). Man kann gleichwohl nicht sagen, daß man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht. Außerdem müßte man dabei voraussetzen, daß man auch sagen könnte, daß man nicht meint, was man sagt. Wenn man aber dies sagt, kann der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt. Er landet beim Paradox des Epimenides. (Luhmann 1988, S. 208).

Themen: Unter dem Aspekt von Selektion und Komplexitätsreduktion sind die Themen der Kommunikation systemtheoretisch besonders interessant. Wenn Sprache eine höhere Selektionsleistung als bloße Wahrnehmung beinhaltet, dann ist die Konzentration der Sprache auf ein bestimmtes Thema eine weitere Selektionsleistung. In sozialen Systemen überschaubarer Größe (Kleingruppen) sind Themen für den Kommunkationsprozeß von besonderer Bedeutung:

Thematische Konzentration dient als Bestimmung und Reduktion systemeigener Komplexität, als Prinzip der Verknappung zugelassener Möglichkeiten, das dann als Voraussetzung dient für alle höheren Ordnungsleistungen im System. Thematische Konzentration ermöglicht Vereinfachungen dadurch, daß jeweils nur ein Thema anerkannt und in Bewegung gehalten wird, so daß sich eine serielle Ordnung der Systemereignisse ergibt und Verschiedenheiten im Nacheinander ausgedrückt werden müssen. Jeder, der sich an Diskussionen beteiligt hat, weiß, welche Opfer dies impliziert. Andererseits ist dies Ausweichen in die Zeitdimension Voraussetzung dafür, daß alle an allem teilhaben können. Auf das Thema konzentriert sich dann zugleich die gemeinsame Aufmerksamkeit der Beteiligten - ein nur durch Sprache erreichbarer Zentralisierungseffekt. Das Thema gewinnt eine eigene, von den einzelnen Beiträgen unterscheidbare Identität. Es kann dann zur Kontrolle der Beiträge benutzt werden in dem Sinne, daß feststellbar (und gegebenenfalls thematisierbar!) ist, ob Beiträge zum Thema passen oder abschweifen, ob sie das Thema fördern oder ob sie es verändern. (Luhmann, Bd.II, 1991, S. 24)

Luhmann setzt „Gesellschaft“ keineswegs gleich mit „Interaktion“. Beides sind Systeme, die nicht ohne das jeweils andere System existieren können.

Die Gesellschaft garantiert die sinnhaft-selbstreferentielle Geschlossenheit des kommunikativen Geschehens, also für jede Interaktion auch die Beginnbarkeit, Beendbarkeit und Anschlußfähigkeit ihrer Kommunikation. (Luhmann 1988, S. 566)

Indem jeder Interaktionsteilnehmer sich durch Verweis auf weitere gesellschaftliche Verpflichtungen der aktuellen Interaktion Grenzen setzen kann, transformiert die Differenz von Gesellschaft und Interaktion „Bindung in Freiheit“ (ebenda, S. 570).

Der Kommunikationsbegriff ist bei Luhmann keineswegs auf Alltagskommunikation beschränkt. Dies wird in seiner Theorie der generalisierten Kommunikationsmedien deutlich. Im Anschluß an die Darstellung der drei Unwahrscheinlichkeiten für Kommunikation - siehe oben - definiert Luhmann (1988, S. 220) Medien rein funktional als „evolutionäre Errungenschaften“, die dazu dienen, die doppelte Kontingenz von Kommunikation zu bearbeiten, Kommunikation also wahrscheinlicher werden zu lassen. Dementsprechend unterscheidet er drei Arten von Medien:



  • die Sprache ist jenes Medium, das akustische und optische Zeichen sinnhaft verwendet, damit über bloße Wahrnehmung weit hinausgeht unendlich viele Möglichkeiten des Kommunizierens eröffnet, Ereignisse als Information erscheinen zu lassen, Informationen zu Themen zu gruppieren;

  • die Verbreitungsmedien, die traditionell in Form von Schrift und Druck auftraten, haben in der modernen Kommunikationsgesellschaft durch Funk [und die weitere Entwicklung der Mikroelektronik bis hin zu Computer und Internet; H.R.] eine ungeahnte Vervielfältigung erfahren, was die Ausweitung und Standardisierung rein mündlicher Kommunikation bedeutet;

  • symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die umfassende Raster der Kommunikation beinhalten.

Talcott Parsons fortführend, sind für Luhmann derartige sich durch die Zeiten hindurchziehende symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien: Wahrheit/Wertbeziehungen, Liebe, Eigentum/Geld/Kunst, Macht/Recht sowie „Grundwerte“. Die generaliserten Kommunikationsmedien sind motivierend, sie bringen Kommunikation in Gang und bilden gleichsam einen Satz von Steuermechanismen der Kultur, indem sie nicht nur sich selbst reproduzieren, sondern auch Codes, Interpretations- und Konstruktionsmuster darstellen für viele Einzelthemen gesellschaftlicher Kommunikation. Das symbolische Medium „Wahrheit“ läßt jeder Aussage über einen Sachverhalt in einer zweiwertigen Relation des Urteilens erscheinen: Ob z.B. etwas als wahr oder falsch, wertvoll oder wertlos betrachtet wird, ist ein genereller und allseits bedeutsamer Gesichtspunkt für die Auswahl, Darstellung und Interpretation eines Themas oder Beitrages.

Die moderne Gesellschaft als Kommunikationsgesellschaft existiert zu einem großen Teil nur noch durch die Erzeugung und Steuerung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, weil sich durch sie auch ein Prozeß der Themenerwartung in Gang bringen läßt, der durch Überfrachtung - d.h. durch zu geringe Selektionsleistung auf Grund eines gesteigerten Angebotes - freilich auch die Grenzen des Systems markiert (vgl. Luhmann 1988, S. 268).


4.5.4 Am Ende: Luhmann - genial, folgenlos, falsch verstanden


Kommunikation ist die eigentliche Leistung sozialer Systeme. Kommunikation hat keinen Zweck, verfolgt keine Absicht - sie geschieht einfach (oder sie geschieht nicht). Dies schließt nicht aus, daß sich innerhalb von Kommunikationssystemen „zweckorientierte Episoden“ bilden. Entscheidend ist, daß Kommunikation fortdauert - unabhängig vom Erreichen oder Nichterreichen von Zwecken (Luhmann Bd. VI, 1995, S. 19).

Was bringt die Beschäftigung mit Luhmanns Sicht sozialer Systeme für das Verständnis von Kommunikationstheorien?



  1. Ein wesentlich geschärftes Bewußtsein für Differenzen. Luhmann betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen; beides sind gegeneinander abgeschlossene autopoietische Systeme. Psychische Systeme (Bewußtseinssysteme) können nicht kommunizieren, dies ist allein die Leistung sozialer Systeme, es „liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß das Bewußtsein zur Kommunikation nur Rauschen, nur Störung, nur Perturbation beiträgt“, sagt Luhmann (1995, S. 122).

  2. Damit zusammen hängt die Einsicht, daß Kommunikation riskant ist. Jede Steigerung von Kommunikationsmöglichkeiten ist Quelle gesteigerter Konfliktmöglichkeiten. Kommunikation ist gleichzeitig immer emergentes Geschehen. Als Folge der doppelten Kontingenz kommt immer wieder eine neue Qualität ins Spiel. Allerdings beruht die hohe Kontingenz mündlicher Kommunikation in der modernen Gesellschaft darauf, daß eine allseits entwickelte Literalität alle wesentlichen emergenten Informationen sofort verschriftlicht, so daß - anders als in präliteralen Gesellschaften - mündliche Kommunikation nicht mehr der inkontingenten Weitergabe von Wissen/Mythen, Genealogien oder Rechtsvorschriften dient. Die unmittelbare Verschriftlichung jeder öffentlich relevanten Information, entlastet die mündliche Kommunikation von einer Fülle von Aufgaben, deren Erfüllung Inkontingenz erfordern würde (vgl. Goody et al. 1997). „Lesen“ ist für Luhmann (1988, S. 408 ff. ) eine wichtige Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, es ist kein soziales Handeln.

  3. Jede Identifikation mit Werten, Normen, Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Verbesserung der Bedingungen von Kommunikation muß im Licht der Theorie Luhmanns skeptisch eingeschätzt werden. Allerdings ist in Rechnung zu stellen: Luhmanns Theorie ist ein reines Analyseinstrument und will keine Antwort auf die Frage geben, wie wir uns am besten verhalten sollen.

  4. Luhmanns Theorie ist genial, aber auch irgendwie folgenlos. Da die Gesellschaft gemäß Luhmanns Theorievorstellung nur kommuniziert - und sonst nichts anderes tut -, kann sie sich, auch wenn es z.B. um ökologische Gefährdungen geht, immer nur durch Kommunikation gefährden (Luhmann 1990b, S. 68). Es sei denn, räumt Luhmann ein, die Menschheit würde sich schließlich selbst umbringen (was er, der Optimist, vor über 10 Jahren noch nicht für wahrscheinlich hielt). Aber selbst dann - so muß man ihn interpretieren - ist das Ende der Gesellschaft nur eine Folgeerscheinung, dadurch daß durch den Tod der Subjekte („Umwelt“), die Bedingung der eigenen Autopoiesis abhanden gekommen ist. In Luhmanns Theorie hat die Gesellschaft, auch wenn sie ökologisch gefährdete Lebensbereiche zur Systemumwelt rechnet, immer nur die Möglichkeit, „Gefährdung“ zum Thema für Kommunikation zu machen, nicht aber etwa die Fähigkeit, durch Handeln konkreten Gefährdungen entgegenzutreten; dies ist Sache von Handlungssystemen, die, wie Luhmann (1990b, S. 218 ff.) treffend die Konfliktlagen ökologischer Kommunikation in unserer Gesellschaft beschreibt, mit anderen autopoietischen Systemen (z.B. dem Rechtssystem, dem Wirtschaftssystem) kaum zu einem funktionell abgestimmten, übergreifenden Steuerungszusammenhang gelangen. Steuerungs- und Integrationsprobleme kann Luhmann elegant beschreiben, die Unbegreiflichkeiten, Paradoxien und Risiken der modernen Gesellschaft kann er wie kein anderer verständlich machen. Ein praktisches Instrument der Entscheidungshilfe für die hochkomplexen Konfliktlagen der „kommunizierenden Gesellschaft“ bietet seine Theorie allerdings nicht. Luhmanns Prognosen sind dort am sichersten, wo er vor Prognosesicherheit warnt. Das könnte man allerdings auch ohne Luhmanns Theorie.

  5. Bemerkenswert ist heute eine ganz bestimmte partielle Rezeption Luhmanns (und anderer Autoren mit systemisch-konstruktivistischen Neigungen), die fast schon den Charakter einer zeittypischen Bewegung angenommen hat. Die Welle von euphorischen Neubewertungen des Menschen als „sich selbst organisierendes“, „prozeßorientiertes“, selbstverantwortliches System, die sich unter dem Stichwort „systemisches Denken“ ausgebreitet hat in pädagogischen Workshops, Weiterbildungskursen und Management-Seminaren stammt von Interpreten, die Luhmann entweder nicht, unvollständig oder falsch gelesen haben. Gerade wenn man letzteres unterstellt, kann ein falsch verstandener Luhmann wiederum zu Emergenzen im Sinne „tatsächlicher“ Kommunikationsverbesserung führen, die Luhmann selbst wohl kaum vorausahnte. Als Vertreter des Radikalen Konstruktivismus würde er diese Emergenz vermeintlicher Realitätsverbesserung wohl ohne weiteres eingeräumt haben.

Vermutlich funktionieren alle Mythen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis berufen, darauf, daß sie diese Erkenntnis falsch verstanden haben. Etwas „falsch“ verstehen heißt, das Unverständliche in Verständliches, das Unvertraute in Vertrautes umwandeln. Ein Mythos kennt weder Fehler noch Risiken, aber er kann erzählt werden (vgl. Luhmann, Bd. IV, 1994, S. 261).

Die Gemeinsamkeit zwischen Luhmann und Watzlawick besteht darin, daß für beide die „Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation“ im Zentrum des Interesses steht. Die Differenz zwischen Watzlawick und Luhmann läßt sich mit dem Satz umschreiben: Watzlawick kann man gut erzählen, Luhmann nicht!


4.5.5 Originaltext Luhmann


Aus: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 2. Aufl. 1988, S. 237-239.

Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die Sensibilisierung des Systems für Zufälle, für Störungen, für „noise“. Mit Hilfe von Kommunikation ist es möglich, Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich zu machen. „Verständlich“ heißt dabei nicht, daß man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern könnte.

Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die Sensibilisierung des Systems für Zufälle, für Störungen, für „noise“ aller Art. Mit Hilfe der Kommunikation ist es möglich, Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich zu machen. „Verständlich“ heißt dabei nicht, daß man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern könnte. Das leistet die Kommunikation nicht ohne weiteres. Entscheidend ist, daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen werden und damit weiterbehandelt werden können. Man kann dann unterscheiden, ob die Störungen im Kommunikationsprozeß selbst auftreten, zum Beispiel als Druckfehler (der Begriff gibt Sinnlosem Sinn, man kann Druckfehler erkennen und beseitigen); oder ob sie in den Themen und Beiträgen der Kommunikation zu suchen sind, so daß man sie nicht einfach technisch korrigieren kann, sondern ihre Gründe ermitteln muß. Durch Kommunikation begründet und steigert das System seine Empfindlichkeit und setzt sich so durch Dauersensibilität und Irritierbarkeit der Evolution aus.

Als Korrektiv dieser Unruhe dient nicht so sehr Konsens; denn bei Konsens wäre die Gefahr des Irrtums, der Fehlleistung, des Stillstandes viel zu groß. Vielmehr entsteht, wenn Kommunikation in Betrieb gehalten wird, ein Doppelphänomen von Redundanz und Differenz; und darin liegt der Gegenhalt für das Unruheprinzip der Kommunikation. Der Begriff der Redundanz bezeichnet überzählige Möglichkeiten, die aber gleichwohl eine Funktion erfüllen. Wenn A durch Kommunikation B über etwas informiert und ihm die Information abgenommen wird, kann C und jeder weitere sich sowohl an A als auch an B wenden, wenn er sich informieren will. Es entsteht ein Überschuß an Informationsmöglichkeiten, der aber gleichwohl funktional sinnvoll ist, weil er das System von bestimmten Relationen unabhängiger macht und es gegen Verlustgefahr absichert. Das gleiche Wissen, die gleiche Einstellung ist jetzt mehrfach vorhanden. Dadurch allein schon kann der Eindruck der Objektivität, der normativen oder kognitiven Richtigkeit entstehen und eine entsprechend sichere Verhaltensgrundlage abgeleitet werden. Die Redundanz verhilft auch zum Herausfiltern dessen, was sich in vielen Kommunikationen bewährt, und bildet in diesem Sinne Struktur; das System wird unabhängiger davon, daß alle Kommunikation über individualisiertes Bewußtsein vermittelt werden muß und insofern nur psychisch Vorgekautes prozessieren kann.

Zugleich produziert Kommunikation aber auch Differenz. Liefe alles Prozessieren von Information nur auf Redundanz hinaus, wäre die Gefahr einer übereinstimmend akzeptierten Fehleinstellung viel zu groß. Daß die Gefahr nicht ausgeräumt werden kann, ist bekannt; die rasche Verbreitung eigentümlich engstirniger intellektueller Moden, die sich gerade dadurch für Kommunikation eignen, liefert immer wieder neues Anschauungsmaterial. Aber Kommunikationssysteme produzieren zugleich immer auch die Selbstkorrektur. Jede Kommunikation lädt zum Protest ein. Sobald etwas Bestimmtes zur Annahme angeboten wird, kann man es auch negieren. Das System ist nicht strukturell auf Annehmen, nicht einmal auf eine Präferenz für Annehmen festgelegt. Die Negation jeder Kommunikation ist sprachlich möglich und verständlich. Sie kann antezipiert und durch Vermeidung entsprechender Kommunikation umgangen werden; aber das ist nur eine Weise des Praktizierens der Differenz: ihre Rückverlagerung vom verstehenden Ego auf den mitteilenden Alter.

Kommunikation setzt auf diese Weise Systembildung in Gang. Wenn immer sie in Gang gehalten wird, bilden sich thematische Strukturen und redundant verfügbare Sinngehalte. Es entsteht eine selbstkritische Masse, die Angebote mit Annahme/Ablehnungsmöglichkeiten hervorbringt. All das differenziert sich als Prozeß aus einer Umwelt aus, die in Themen paratgehalten, in Kommunikationen intendiert werden kann und Ereignisse produziert, die im System als Information weiterbehandelt werden können. Das System findet sich, soweit dafür gesorgt ist, daß Teilnehmer sich wechselseitig wahrnehmen, in einer Art Dauererregung, die sich selbst reproduziert, aber auch von außen stimuliert werden kann - ähnlich wie ein Nervensystem. Es gewinnt mit all dem eine eigene Komplexität, und es reproduziert zugleich eine Ordnung im Sinne reduzierter Komplexität. Es ermöglicht sich selbst die orientierte Fortsetzung der Kommunikation durch eine Selbstbeschreibung, die durch Reduktion von Kommunikation auf Handlung zustandekommt. Solche Systeme sind in einer Weise, die sich nicht direkt aus der biologischen Evolution ergibt, evolutiver Selektion ausgesetzt. Daß die Zufallanlässe in sinnhafte Information umsetzen, ist für sie unvermeidlich; aber ob das, was sie dann als Redundanz und als Differenz erzeugen, sich in der Evolution bewährt und wie lange es sich bewährt, ist aus der Zwangsläufigkeit des Ordnungsaufbaus nicht abzuleiten.

Wenn Kommunikation in Gang kommt, entsteht mithin ein System, das eine besondere Art von Umweltverhältnis unterhält. Umwelt ist ihm nur als Information zugänglich, nur als Selektion erfahrbar, nur über Veränderungen (im System selbst oder in der Umwelt) erfaßbar. Gewiß gibt es zahllose weitere Umweltvoraussetzungen, vor allem natürlich die Existenz von Menschen mit Bewußtsein. Diese Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation gehen aber nicht automatisch in die Kommunikation mit ein: Sie können Thema der Kommunikation werden, aber sie müssen es nicht. Der Sachverhalt liegt also genau parallel zu der eigentümlichen Umweltlage von Bewußtseinssystemen. Auch hier werden nicht die physiologisch komplexen Prozesse der Wahrnehmung bewußt, sondern nur deren Produkte. Mit solchen Reduktionen ergeben sich neue Freiheitsgrade für den Umgang mit der Umwelt.


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