25
repräsentieren die Widersprüchlichkeit innerhalb des Subjekts; sie stehen entsprechend dem
„realistischen“ und dem „idealistischen“ Weg für zwei potentielle Handlungsalternativen des
Subjekts.
96
Wenn der Wille nun dem Naturtrieb entgegen den Vorschriften der Vernunft folgt,
macht er in einer „unwürdigen“ Weise von seiner Freiheit Gebrauch.
97
Schiller hält an dem
Konzept des neutralen freien Willens fest, ändert aber die Terminologie in den Briefen „Über
die ästhetische Erziehung des Menschen“: der freie Wille kann sich nunmehr zwischen
„Pflicht“ (früher „Vernunft“) und „Neigung“ (früher „Naturtrieb“) entscheiden.
98
Hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Willen und dem Naturtrieb (Neigung) – letzterer
ist der körperlich-sinnlichen Welt zuzuschreiben – ist eine wichtige Ergänzung hinzuzufügen:
[…] [D]er Person kommt es zu, den Instinkt durch Rücksicht auf Gesetze zu beschränken. Der
Instinkt achtet an sich selbst auf kein Gesetz, aber die Person hat dafür zu sorgen, daß den
Vorschriften der Vernunft durch keine Handlung des Instinkts Eintrag geschehe.
99
Hierin liegt für Schiller das entscheidende Merkmal des Menschseins im Unterschied zum
Tier; dem Willen kommt die Aufgabe zu, dem Instinkt – der nur den Interessen der sinnlichen
Welt dient – Grenzen zu setzen.
100
Als den „mächtigsten aller Instinkte“ bezeichnet Schiller
den „Trieb der Selbsterhaltung“, den man auch als Überlebenstrieb bezeichnen könnte.
101
Anwendung von Schillers Philosophie auf „Maria Stuart“
Maria widerfährt Gewalt, ja ihr droht der Tod. Vier Akte lang geht sie den „realistischen
Weg“, versucht auf verschiedensten Wegen, ihr Schicksal abzuwenden. Noch kurz bevor sie
erfährt, dass die Hinrichtung stattfinden werde, hofft sie auf Rettung. Marias körperliche Seite
mit ihrem Überlebenstrieb dominiert. In ihrer Begegnung mit Elisabeth handelt sie zunächst
moralisch als „schöner Charakter“; ihr vernünftiges Handeln, das sich einerseits in
persönlicher und politischer Unterwerfung und andererseits in Versöhnungsbemühungen
ausdrückt, ist verbunden mit Unterdrückung von Hassgefühlen. Dennoch muss man dieses
Verhalten als moralisch bezeichnen, das dem Sittengesetz entspricht. Als „schöner Charakter“
erklärt sich Marias tugendhaftes Verhalten in der Königinnen-Begegnung jedoch immer noch
als Konsequenz der Sinnenwelt; denn schließlich ist es durch ihren Überlebenstrieb motiviert,
weil sie durch dieses Vorgehen hofft, ihrem Tod zu entgehen. Man kann sagen, dass ihr Geist
zu diesem Zeitpunkt sich noch nicht über die Natur erhoben hat. Dass sie am Ende der
96
Vgl. Roehr 2003, 125.
97
Ebd.,
127.
98
Ebd.
99
„Über das Pathetische“ in: Schiller 1970, 63.
100
Ebd.
101
Ebd.,
76.
26
Königinnen-Begegnung – teils schon während des Gesprächs – all ihre Aggressionen, die sich
in vielen Jahren angestaut haben, Elisabeth entgegenschleudert und damit eine große Chance
vergibt, ist noch kein „idealistischer Weg“, kein Akt geistiger Freiheit oder gedanklicher
Umdeutung erlittener Gewalt, sondern ein Racheakt, der dem körperlich-triebhaften Teil des
Menschen entspringt. Er ist menschlich verständlich, angesichts der Situation Respekt
erheischend, doch kein Ausdruck geistiger Freiheit. Zu sehr litt ihre Seele all die Jahre, als dass
sie schon frei sein könnte. Ihr triebhafter Ausbruch ist aber nötig, um frei zu werden für den
anderen Weg. Denn frei zu sein heißt ja laut Schiller, moralisch-geistig zu handeln befreit vom
Einfluss der sinnlich-körperlichen Seite des Menschen.
Schiller lässt sämtliche Rettungspläne scheitern. Erst dies ermöglicht Maria den
„idealistischen Weg“ zu beschreiten, den sie einschlägt, als Paulet ihr mitteilt, dass gerade das
Schafott errichtet werde und sie die aussichtslose Lage erkennt. In diesem Moment ereignet
sich der Wechsel; Hannah Kennedy berichtet Melvil über Marias Reaktion auf die
Hinrichtungsvorbereitung: „Man löst sich nicht allmählich von dem Leben! / Mit einem Mal,
schnell augenblicklich muss / Der Tausch geschehen […]“.
102
Einen fast identischen Wortlaut
findet man in „Über das Erhabene“: „Nicht allmählich (denn es gibt von der Abhängigkeit
keinen Übergang zur Freiheit), sondern plötzlich und durch eine Erschütterung reißt es [das
Erhabene] den selbständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn
umstrickte“.
103
In Hannah Kennedys Worten hat man „eine in Blankverse übertragene
Paraphrase dieser Stelle“ gesehen.
104
Barone empfiehlt jedoch Vorsicht bei solch einer
Deutung, weil Kennedy diese Worte spreche, bevor Maria ihren letzten, entscheidenden Kampf
– den Gang zum Schafott – bestanden habe. Barone hält es für plausibler, dass Schiller an
dieser Stelle bloß eine bestimmte Erwartungshaltung beim Zuschauer hervorrufen bzw. eine
Spannung erzeugen wolle, die sich auf die Frage richtet, ob Maria den auf sie projizierten
Erwartungen tatsächlich gerecht zu werden vermag.
105
Maria kann schließlich ihr Schicksal durch die gedankliche Umdeutung des
bevorstehenden Todes akzeptieren: Sie sieht ihn nicht mehr länger als einen sie
fremdbestimmenden Gewaltakt, sondern nimmt ihn freiwillig als Sühne für ihre Verwicklung
in den Mord an ihrem zweiten Gatten auf sich, aber ausdrücklich nicht als Sühne für die ihr
vorgeworfenen Straftaten, denn die habe sie nicht begangen. All dies wird in der Beichtszene
klar. Nun ist Maria ein „moralischer“ Mensch; mit der Umdeutung des Urteils hat sie ihre
102
Hannah Kennedy in V/1, V.3402-04.
103
Schiller 1970, 90f.
104
Vgl. Köhnke1996, zit. nach Barone 2004, 305.
105
Ebd.
27
Körperseite überwunden und ist endlich wirklich frei – nach Schiller eine „erhabene Seele“,
die den „idealistischen Weg“ beschritten hat. Marias Sinneswandel kann aber nicht allein mit
dem Scheitern aller Rettungsversuche und der Unvermeidbarkeit des Todes erklärt werden.
Der Sinneswandel ist nur verständlich vor dem Hintergrund von Marias tiefer Religiosität,
genauer gesagt ihrem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele; mittels dieses Glaubens
behauptet sie die Autonomie ihres Geistes gegenüber dem Überlebenstrieb und dem Tod; sie
befreit sich also in ihrem Handeln von innerem und äußerem Zwang der Natur; so gesehen
„besiegt“ sie den Tod mit geistigen Mitteln.
Zu klären ist noch die Frage, ob Maria auch eine „schöne Seele“ ist. Eine Harmonie von
Pflicht und Neigung, wie Schiller sie einer „schönen Seele“ zuschreibt, ist im Falle Marias in
der Königinnen-Begegnung nicht nachweisbar. Auch in Marias Ausbruch ihrer unterdrückten
Gefühle am Ende dieser Begegnung kann man diese Harmonie nicht erkennen. Es scheint aber
wahrscheinlich, dass Schiller in der Maria Stuart eine „schöne Seele“ darstellen wollte,
nachdem sie im fünften Akt zur „erhabenen Seele“ geworden ist. Dafür spricht, dass ihre
Gefühlslage, die sich in ihren Handlungen im fünften Akt ausdrückt, mit ihrer geistigen
Umdeutung des Todesurteils im Einklang steht; denn sowohl ihre liebevoll-fürsorglichen
Worte für ihre Untergebenen als auch ihre allumfassende Vergebung insbesondere gegenüber
Elisabeth erscheinen hier authentisch, gerade weil Maria sich geistig vom Überlebenstrieb
befreit hat. Dass Schiller auch eine „schöne Seele“ darstellen wollte, wird durch seine
Darstellungsweise der Maria Stuart gestützt: er verjüngt sie deutlich im Vergleich zur
historischen Maria und stellt sie auch als äußerlich schön dar, worauf an mehreren Stellen des
Dramatextes Bezug genommen wird. Insoweit entspricht Marias innerer Schönheit eine äußere
Schönheit. Schiller hat mit den Bildern katholischer Frömmigkeit das ausgedrückt, was er für
vollendete Menschlichkeit hielt.
106
„Ich finde“, schrieb er damals an Goethe (17. August
1795), „in der christlichen Religion virtualiter [ihrem Wesen nach, Gegensatz zu realiter] die
Anlage zu dem Höchsten und Edelsten“ […] Es [i.e. das Christentum] ist also in seiner reinen
Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen“.
107
106
Vgl. Buchwald 1959, 58 f.
107
Ebd. In einem Brief an Goethe (17.8.1795) betont er die freie Neigung des Christentums, das „in seiner
reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen“ sei. „In diesem Sinne“
sei es „die einzige ästhetische Religion“ (wobei das Wort „ästhetisch“ in der Bedeutung einer Einheit des
Geistigen und Natürlichen zu verstehen ist). Daher könne gerade einer schönen Seele dieser Glaube viel
sein, oder vielmehr: eine schöne Seele vermöge viel daraus zu machen. Und deshalb könnte gerade der
weibliche Charakter, dem Schiller im Gegensatz zum männlichen in zahlreichen Äußerungen die besondere
Eignung zu schöner Sittlichkeit zugesprochen hat, auch eine echte Beziehung zu einem solchen Christentum
gewinnen, Buchwald 1959, 59.
28
Es sei nochmals betont, dass Maria erst zur „schönen Seele“ werden konnte, nachdem sie
den „idealistischen Weg“ beschritten hatte, indem sie sich als „erhabene Seele“ gegenüber der
Natur bzw. dem Überlebenstrieb geistig behauptet hat. Zusammenfassend stellen sich Marias
Entwicklungsstufen folgendermaßen dar: 1. „schöner Charakter“, 2. „erhabene Seele“, 3.
„schöne Seele“.
Elisabeth dagegen ist immer nur den „realistischen Weg“ gegangen. Auch sie fürchtet um
ihr Leben, mehrere Anschläge auf ihre Person hat sie überlebt. Ihre Wahl zwischen
Handlungsalternativen wird zum einen von Staatsräson und zum anderen von Angst um das
eigene Leben („Trieb der Selbsterhaltung“), Rache, Hass und Eifersucht bestimmt. Politisch ist
ihr Handeln durch Staatsräson motiviert, indem sie eine erneute Katholisierung Englands und
dessen Unabhängigkeit wahren möchte. Sie bindet ihr Handeln nicht an das Sittengesetz, ist
aber für ihre Handlungen verantwortlich, weil sie – entgegen ihren eigenen Behauptungen –
über einen neutralen freien Willen im Schiller’schen Sinne verfügt.
108
Elisabeth sieht sich
gezwungen ihren freien Willen unter Verweis auf den Volkswillen zu leugnen, um den äußeren
Schein einer gerechten Regierung zu wahren; dies macht sie im Schiller’schen Sinne zu einer
fremdbestimmten Person, die es nicht vermag, sich mittels der Vernunft von diesen Zwängen
zu befreien. Die ihr zukommende moralische Pflicht versucht sie verzweifelt auf ihren Sekretär
Davison und Burleigh abzuwälzen. Nach Schiller ist sie moralisch unfrei, weil sie in
„unwürdiger“ Weise von ihrem freien Willen Gebrauch macht: in der persönlichen Begegnung
mit Maria lässt Elisabeth ihren Willen von Hass, Rachegefühl und Eifersucht leiten und im
Moment der Unterzeichnung des Todesurteils wird ihr Wille von persönlichem Rachegefühl
und politischen Motiven bestimmt. Nur faktisch hat sie sich von der ihr durch Maria drohenden
Gewalt befreien können, moralisch-geistig bleibt sie unfrei; das zeigen auch ihre Reaktionen,
als sie von der Hinrichtung erfährt. Bis zuletzt bleibt sie fremdbestimmt (heteronom) von ihren
Trieben und ihrer Persönlichkeitsstruktur; ihr gelingt es nicht, den Geist vom Einfluss der
körperlich-sinnlichen Seite zu lösen. Selbstbestimmt hätte sie nur gehandelt, wenn sie sich von
ihrer Neigung befreit hätte. Sie ist daher im Gegensatz zu Maria weder „erhaben“ noch
„schön“, sondern moralisch unfrei.
Kritik an Schillers Konzeption der Freiheit
Man könnte natürlich grundsätzlich die Schiller’sche Konzeption von Freiheit, die zum einen
von einer dualistischen Sichtweise des Menschen als einem sinnlich-sittlichen Doppelwesen
108
Man könnte den gewissenhaften Shrewsbury, der Elisabeth an ihren freien Willen erinnerte, als „Stimme”
Schillers deuten.
29
und zum anderen von einem freien Willen ausgeht, in Frage stellen. Dies würde jedoch
deutlich den abgesteckten Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Allerdings erscheint es mir
angemessen, im Folgenden der Frage nachzugehen, ob die Schiller’sche Freiheitskonzeption,
so wie sie oben umrissen wurde, in all ihren Teilen logisch nachvollziehbar ist.
Es ließe sich einwenden, dass Marias Sich-in-den-Tod-Fügen als Umsetzung von Schillers
„Resignation in die Notwendigkeit“ nichts anderes bedeutet als Resignation in die
Fremdbestimmung, dem sich Fügen von äußerem Zwang und somit Bejahung der Heteronomie
(!). „Kein Mensch muß müssen“ hatte Schiller aus Lessings „Nathan der Weise“ zitiert, aber
alle Menschen müssen sterben. Riedel ist der Ansicht, dass sich hier in Marias Tod im
Grenzfall der Tod und die Freiheit miteinander „verknoten“. Doch nicht so, dass im Tod die
Freiheit, also die Autonomie, sondern, dass in der Freiheit der Tod, also die Heteronomie,
triumphiert.
109
Schillers „System“ der Freiheit gerät hier in Widerspruch mit sich und die Logik des
Denkmodells wird paradox. Die Positionen negieren sich selbst, da der letzte Freiheitsakt vor
dem drohenden Tod unweigerlich mit seinem Gegenteil zusammenfällt: der Kapitulation vor
der Notwendigkeit. Damit fällt das dichotomische Schema in sich zusammen; zwischen
Autonomie und Heteronomie, Selbst- und Fremdbestimmung, Freiheit und Notwendigkeit
kann keine Unterscheidung mehr getroffen werden.
110
Noch bevor der Tod eintritt, löscht er
die Differenz.
111
Schiller löst dieses Dilemma nur scheinbar: Der Mensch wolle, was er muss,
heißt nichts anderes als: Er muss wollen, was er muss.
112
Denn auch wenn er nicht wollte, so
müsste er doch. Damit hat der freie Wille, so wie Schiller ihn definiert, aber keine freie Wahl
mehr. Dies muss aber nicht bedeuten – wie Riedel behauptet – dass kein Weg an der
Heteronomie vorbeiführe und die Schiller’sche Dichotomie komplett implodiere;
113
denn
Marias Glaube an eine unsterbliche Seele richtet sich ja gerade gegen eine absolute
Heteronomie des Todes. Somit ist dieser Glaube die geistige Überwindung der Heteronomie.
Hierin verbindet sich das – obgleich wie oben gesehen paradoxe – Freiheitskonzept mit dem
christlichen Konzept von Unsterblichkeit; mit diesem Konzept der Unsterblichkeit der Seele
kann Schiller sein Konzept der Freiheit als ewige Idee darstellen:
[…] Freuen solltet
Ihr euch mit mir, dass meiner Leiden Ziel
Nun endlich naht, dass meine Bande fallen,
Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich
109
Vgl. Riedel 2007, 66.
110
Vgl. Riedel 2007, 67.
111
Ebd.
112
Ebd.
113
Ebd.
30
Auf Engelsflügeln schwingt zur ew’gen Freiheit. (V/6, V.3480-84)
Dies ist aus Schillers Perspektive konsequent zu Ende gedacht, denn ihm ging es um die
zeitlose Entwicklung der Menschen zur Menschlichkeit.
114
114
Vgl. Sörensen 2003, 279.
31
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