Rudolf steiner



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darauf bedacht war, in streng umrissenen Begriffen über Goethe zu
reden, sondern mehr in allgemeinen Vorstellungen; wie er aber ver-
suchte, begreiflich zu machen, daß dasjenige, was als Tiefstes in
Goethe lebte, doch hinein muß in die moderne Kultur. Schröer hat,
als der fünfzigste Todestag Goethes war, 1882, eine Rede gehalten:
«Die kommende Anschauung über Goethe.» Schröer lebte in dem
Traum, daß dazumal schon die Zeit gekommen wäre, die Goethe zu
einer Art von Auferstehung verhelfen würde. Und dann schrieb er
einen kurzen Aufsatz in der «Neuen freien Presse», der wiederum
abgedruckt ist in dem Büchelchen «Goethe und die Liebe», das jetzt
unter ändern Schröerschen Schriften von unserem Kommenden-Tag-
Verlag erworben worden ist, so daß die Restexemplare dort zu haben
sind und nach einiger Zeit wohl auch Neuauflagen werden besorgt
werden können. Dieser Aufsatz «Goethe nach 50 Jahren» ist ein kur-
zer Auszug aus jenem Vortrag, den ich dazumal gehört habe. Er ent-
hält manches von dem, was dazumal in Schröers Gefühlen lebte: daß

Goethe in die Zivilisation hinein müsse. Und dann, als Schröer das


Büchelchen schrieb «Goethe und die Liebe», da hatte er in den An-
merkungen zu zeigen versucht, wie man Goethe lebendig machen
solle, denn Goethe lebendig machen, heißt ja in gewissem Sinne, die
abstrakte Gedankenwelt selber lebendig machen. Ich habe in der
letzten Nummer des «Goetheanum» hingewiesen auf eine solche
Stelle, die wunderschön ist, und die in dem Büchelchen «Goethe und
die Liebe» steht. Da sagt Schröer: «Schiller erkannte ihn [Goethe
nämlich]: Ist der intuitive Geist genialisch und sucht in dem Empi-
rischen den Charakter der Notwendigkeit auf, so wird er zwar immer
nur Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen. Goethe
steht mit seiner intuitiven Methode, mit der er im vergänglichen In-
dividuum die unvergängliche Idee, den Urtypus sieht, nicht so ver-
einzelt da, als man vielleicht annehmen möchte.»

Gerade als Schröer dazumal, 1882, diese Stelle schrieb, war ich bei


ihm; das heißt, während er an dem Büchelchen schrieb, kam ich öfter
zu ihm, und er war dazumal ganz voll von einem Eindruck, den er
bekommen hatte. Dieser Eindruck rührte davon her, daß er irgendwo
wahrgenommen hatte, wie einer jener damals noch vorhandenen älte-
ren Ärzte — Oppolzer war es nämlich, der Wiener Kliniker
Oppolzer — eine gewisse unbestimmte Intuition hatte bei der Dia-
gnose. Wenn Oppolzer ans Krankenbett trat, dann machte er nicht
die Differentialuntersuchungen, wie man sie sonst macht, sondern der
Typus des Kranken machte auf ihn einen gewissen Eindruck, und aus
dem Typus des Kranken heraus empfand er nun auch etwas von dem
Typus der Krankheit. Das machte auf Schröer einen starken Ein-
druck, und aus diesem Eindruck heraus schrieb er dann die Stelle, die
dieses Phänomen bei Oppolzer nur zur Erläuterung benützte. Er
schrieb: «In der Heilkunst preist man an großen Diagnostikern am
Krankenbette den Tiefblick, mit dem sie den Habitus, den indivi-
duellen Typus des Kranken und daraus dann die Krankheit erkennen.
Nicht ihr chemikalisches oder anatomisches Wissen steht ihnen dabei
zur Seite, sondern die Intuition in das Lebewesen als Ganzes. Sie sind
schöpferische Geister, die die Sonne sehen, weil ihr Auge sonnenhaft
ist. Andere sehen sie eben nicht. Folgt ein solcher Diagnostiker der in-

tuitiven Methode Goethes unbewußt, Goethe hat sie mit Bewußtsein


in die Wissenschaft eingeführt. Sie führte ihn zu Ergebnissen, die
nicht mehr bestritten werden, nur die Methode ist noch nicht allseitig
erkannt.»

Das schrieb Schröer aus diesem Apercu mit der Oppolzerschen


Intuition am Krankenbett heraus, schon damals hindeutend darauf,
daß also die einzelnen Wissenschaften, zum Beispiel die Heilkunde,
von der Methode, die wiederum mit dem Geiste arbeitet, befruchtet
werden müssen.

Es hat etwas Tragisches, wenn ich zurückschaue, wie in Schröer


einer der letzten von denjenigen Menschen vorhanden war, die noch
etwas empfanden von dem Tiefsten in Goethe. Denn während Schröer
dazumal, im Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts,
geglaubt hat, daß ein Wiederaufleben Goethes stattfinden müsse, hat
man ja Goethe nachher erst recht eingesargt, erst richtig begraben.
Man könnte auch sagen: Das richtige Grab Goethes, das ist für Mittel-
europa gewesen die Goethe-Gesellschaft, und auf englisch heißt sie
Goethe-Society, denn sie wurde dort auch als ein Ableger begründet.
Das war die Grabstätte des lebenden Goethe. Aber die Notwendigkeit
besteht doch, dieses lebendige Element, das in Goethe lebte, wiederum
in unsere Zivilisation hineinzubringen. Karl Julius Schröers Trieb war
ein guter; er konnte sich nur dazumal nicht erfüllen, weil die Zeit
weiterging in der Anbetung des Toten. «Wer will was Lebendigs er-
kennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben.»

Das ist, was eben die Devise wurde, und heute ist in manchen sehr


weiten Kreisen diese Devise bis zum Haß gegen alles Vernehmen vom
Geistigen gegeben — wie Sie ja aus der Aufnahme der Anthroposophie
bei vielen Menschen ersehen können.

Die Zivilisation, aus der Sie selber alle noch herausgewachsen sind,


braucht durchaus dieses Element einer Wiederbelebung. Und es ist
nur merkwürdig, wie heute vieles geredet wird zum Beispiel über den
Goetheschen «Faust» - der ja nur ein neues Moment in jenem Ringen
nach dem Geist darstellt, das wir im Calderonschen «Cyprianus»
gestern gesehen haben -, wie aber nicht gesehen wird, daß es Aufgabe
der Gegenwart ist, zur vollen Lebendigkeit dasjenige herauszustellen,

was Goethe eigentlich hat leben lassen, unbestimmt andeutend, ge-


fühls- und empfindungsmäßig, aber nicht in geistiger Anschauung, in
seinem «Faust», insbesondere im zweiten Teil. Wir müßten auf diese
Erscheinungen in ganz intensiver Weise unsere Aufmerksamkeit rich-
ten, denn wir haben es da wirklich nicht bloß mit einer Weltanschau-
ungsangelegenheit zu tun; wir haben es schon mit einer allgemeinen
Zivilisationsangelegenheit zu tun. Dafür gibt es viele Symptome der
Gegenwart. Diese Symptome müssen nur im richtigen Lichte gesehen
werden.

Da ist eine Schrift erschienen, welche «Die drei Krisen» heißt, von


Ruedorffer, eine Schrift, die einen, wenn man sie liest, ich möchte
sagen auf jeder Seite sticht. Denn der, der sie geschrieben hat, ist eine
Persönlichkeit, die selber im diplomatisch-politischen Leben Europas
in ganz wichtigen Stellungen mitgewirkt hat, vor dem Kriege und in
den Krieg hinein. Der Mann sucht sich jetzt, nachdem er alle mög-
lichen Wege dieses europäischen Lebens kennengelernt hat, eben von
Auslugen aus, von denen aus man es genauer kennenlernen kann als
die meisten Menschen, er sucht sich jetzt klarzuwerden darüber, was
eigentlich ist. Ich brauche Ihnen nur ein paar Stellen vorzulesen aus
der Schrift eines Menschen, der durchaus ein Realist, nicht ein Idealist
sein will, der sich einen gewissen trockenen Blick angeeignet hat in-
nerhalb seiner diplomatischen Laufbahn, und bei dem es, trotzdem er
solche Stellen niedergeschrieben hat, wie ich sie Ihnen vorlesen werde,
doch so ist, daß man sagen kann: Der Zopf, der hängt ihm hinten.
Er ist trotzdem geblieben, was man heute insbesondere liebt, der bür-
gerliche Philister.

Er spricht von drei Dingen in dieser seiner Schrift. Er spricht er-


stens davon, wie die Staaten und Völker Europas kein Verhältnis mehr
zueinander haben. Dann spricht er davon, wie die einzelnen regieren-
den Kreise, die Führer innerhalb der einzelnen Völkerschaften, wieder-
um zum Volke selbst kein Verhältnis haben. Und drittens spricht er
davon, wie namentlich diejenigen Menschen, die heute in radikaler
Art eine neue Zeit herausarbeiten und begründen wollen, erst recht
kein Verhältnis zur Realität haben.

Also ein Mensch, der mitgearbeitet hat, wie gesagt, an den Zustän-

den, die heute geworden sind, der schreibt etwa so: «Diese Erkran-
kung des staatlichen Organismus entreißt der Vernunft die Führung,
überantwortet die Entschließungen des Staats mannigfachen unsach-
lichen Nebeneinflüssen und Nebenrücksichten. Sie beschränkt die Be-
wegungsfreiheit, zersplittert den staatlichen Willen und hat überdies
zumeist noch eine gefährliche Labilität der Regierungen im Gefolge.
Die Zeit des ungebärdigen Nationalismus vor dem Kriege, der Krieg
selbst, der europäische Zustand nach dem Kriege haben ungeheure
Anforderungen an die Vernunft der Staaten, ihre Ruhe und Bewe-
gungsfreiheit gestellt. Daß mit den Aufgaben das Vermögen nicht
wuchs, sondern abnahm, hat die Katastrophe vollendet. Die Krise
des Staates und die Krise der Weltorganisation haben in steter Wech-
selwirkung einander befördert und eine jede die destruktiven Wir-
kungen der anderen vermehrt.» So spricht nicht irgendein Idealist,
nicht irgendein künstlerischer Mensch, der bloß zugeschaut hat, son-
dern einer, der mitgetan hat. Er sagt zum Beispiel: «Wenn die Demo-
kratie bestehen soll, muß sie ehrlich und mutig genug sein, zu sagen,
was ist, auch wenn sie gegen sich selbst zu zeugen scheint. Europa
steht vor dem Untergang.»

Daß wir vor dem Untergange Europas stehen, das sagen heute nicht


bloß die pessimistisch angehauchten Idealisten, sondern das sagen ins-
besondere diejenigen, die in der Praxis drinnengestanden haben. Je-
mand, der, wie gesagt, darinnengestanden hat und mitgetan hat,
schreibt heute eben den Satz hin: «Europa steht vor dem Untergang.
Da ist keine Zeit, daß ein jeder aus parteitaktischen Gründen seine
Fehler verbirgt, statt sie zu bessern. Nur zu diesem Behufe, nicht als
laudator temporis acti unterstreiche ich, daß die Demokratie sich
selbst zerstören muß und wird, wenn sie nicht den Staat aus dieser
Verstrickung von Nebeneinflüssen und Nebenrücksichten befreien
kann. Das vorkriegerische Europa ist zusammengebrochen, weil alle
kontinentalen Staaten, und zwar die Monarchien ebenso wie die De-
mokratien und am meisten das autokratische Rußland, teils freiwillig
und unbewußt, teils unwillig und gezwungen sich der Demagogie un-
terworfen haben, unfähig, in der selbstgeschaffenen Verirrung der
Geister das Vernünftige zu erkennen und das etwa doch Erkannte

frei und entschieden zu tun. Die Oberschichten der alten Staatsord-


nung Europas, im vergangenen Jahrhundert freilich Träger der euro-
päischen Bildung und reich an Persönlichkeiten von staatsmännischem
Geist und Welterfahrung, wären nicht so leicht aus dem Sattel und
als morsch und verbraucht beiseite geworfen worden, wenn sie, mit
den Problemen und Aufgaben der verwandelten Zeit mitgewachsen,
nicht des staatsmännischen Geistes verlustig gegangen wären und eine
andere Tradition als die der äußerlichsten diplomatischen Routine
bewahrt hätten. Wenn die Monarchen den Anspruch erheben, Staats-
männer besser und sachlicher auszuwählen als Parlamente, dann müs-
sen sie und ihre Höfe Mittelpunkt und Höhepunkt der Bildung, Ein-
sicht und Kenntnis sein. Das aber war lange vor dem Kriege vorbei.
Aber die Anklage gegen die Fehler der Monarchie entbindet die
Demokratie nicht, die Ursachen ihrer eigenen Unzulänglichkeit zu
erkennen und alles zu tun, um sie zu beheben. Ehe Europa gesunden,
ehe versucht werden kann, seine heillose Desorganisation durch einen
haltbareren politischen Bau zu ersetzen, müssen die einzelnen Länder
ihre inneren Dinge dergestalt ordnen, daß ihre Regierungen zu sach-
lich freier Arbeit auf lange Sicht befähigt werden. Sonst erlahmt der
beste Wille und die größte Begabung, tausendfach umstrickt, in dem
allerorten gleichen Verhängnis.» Ich würde Ihnen das alles nicht vor-
lesen, wenn es von einem Idealisten herrührte, wenn es nicht von je-
mandem herrührte, der da glauben muß, ganz im Realen drinnenzu-
stehen, weil er eben mitgetan hat.

«Es ist ein Schauspiel von tiefer Tragik, wie jeder Versuch einer


bessernden Handlung, jedes Wort der Umkehr sich in den Netzen
dieses Verhängnisses fängt und, hundertfach umstrickt, schließlich
wirkungslos zu Boden fällt; wie das europäische Bürgertum, gedan-
kenlos an dem Zeitirrtum des steten Fortschritts der Menschheit han-
gend oder die gewohnte Bahn jammernd weitertrottend, nicht sieht
und sehen will, daß es von der aufgespeicherten Arbeit früherer Jahre
zehrt und kaum fähig ist, die Schäden der jetzigen Weltordnung zu
erkennen, geschweige denn, aus sich heraus eine neue zu gebären;
wie auf der anderen Seite die Arbeiterschaft, sich in nahezu allen
Ländern radikalisierend, von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen

den Menschen vom Kopfe hin. Im Kopfe liegt vorzugsweise der Ur-


sprung der Knochen, der festen Knochenbildung, Aber in diesem
Kopfe sehen wir auch schon den Übergang zum Flüssigen. Alles das,
was feste Bestandteile des Gehirnes sind, ist eingebettet im Gehirn-
wasser, und im Kopfe findet ein fortwährendes Durcheinandervibrie-
ren der festen Gehirnbestandteile mit dem Gehirnwasser statt, das

dann durch den Rückenmarkskanal mit dem übrigen Körper zusam-


menhängt. So daß wir sagen können, wenn wir den Nerven-Sinnes-
menschen in Betracht ziehen, da ist der Übergang von dem Irdischen
(blau) zu dem Wasserigen, zu dem Flussigen. Wir dürfen also sagen,
der Nerven-Sinnesmensch lebt in dem erdig-wässerigen Elemente.
Und eigentlich besteht unser Gehirn also, dem Organismus nach, in
diesem Korrespondieren des Festen mit dem Flüssigen.

Gehen wir dann über zu dem Brustorganismus, zu dem rhyth-


mischen Organismus, so lebt dieser rhythmische Organismus in einem
Wechselverhältnis zwischen dem Flussigen und dem Luftformigen
(gelb). Sie sehen daher das Flüssige mit dem Luftformigen in Berüh-
rung treten durch die Lunge. Sie sehen das rhythmische Leben als ein
Durcheinanderweben des Flüssigen mit dem Luftformigen, des Was-
sers mit der Luft. So daß ich sagen kann: Der rhythmische Mensch
lebt im wässerig-luftformigen Elemente.

Und der Stoffwechsel-Gliedmaßenmensch, der lebt dann auf dem


Übergang von dem luftförmigen Element in das Warmeelement, in
das feurige Element (rot). Er ist ein fortwahrendes Auflösen des Luft-
förmigen in das Wärmeelement, in das feurige Element, das dann den

Zustandes überzeugt, sich Heilbringer einer neuen Ordnung glaubt,


in Wirklichkeit aber in diesem Glauben nur unbewußtes Werkzeug
der Zerstörung und des Untergangs, auch des eigenen, ist. Die neuen
Parasiten der wirtschaftlichen Desorganisation, der klagende Reich-
tum von gestern, der zum Proletarier herabsinkende Kleinbürger, der
gläubige Arbeiter, der eine neue Welt zu begründen wähnt, sie alle
scheint dasselbe Verhängnis zu umschlingen, sie alle scheinen Erblin-
dete, die ihre eigenen Gräber schaufeln.» Das steht nicht in dem
Buch eines Idealisten, das steht eben heute in dem Buch eines, der mit-
gearbeitet hat! «Aber der ganze Aspekt des heutigen politischen We-
sens, die neueren Friedensschlüsse der Entente, der polnische Vor-
marsch in die Ukraine, die Blindheit oder Hilflosigkeit der Entente
gegenüber der deutsch-österreichischen Entwicklung, zeigt dem nun
einmal auf Realitäten angewiesenen Politiker, daß die ideale Forde-
rung einer paneuropäischen, konstruktiven Revision der Pariser Frie-
densschlüsse zwar gestellt, die dringendste Warnung erschütternd be-
gründet, Forderung und Warnung aber nur unbeachtet verhallen
können und die Dinge im alten Sinne zwangsläufig weiterrollen — dem
Abgrund zu.»

Das ganze Buch ist geschrieben, um zu beweisen, daß Europa vor


dem Abgrunde steht, daß wir daran sind, das Grab der europäischen
Zivilisation zu schaufeln. Aber das alles möchte ich Ihnen nur als eine
Introduktion sagen zu dem, was ich nun eigentlich für notwendig
halte zu sagen. Das ist nämlich etwas anderes. Wir haben da einen
Menschen vor uns, der in den entscheidenden Büros selber gesessen
hat, der da sieht, daß Europa am Abgrunde steht, und der einfach
sagt - das geht aus dieser ganzen Schrift hervor: Wenn nichts anderes
geschieht, als was die Fortsetzung der alten Impulse ist, dann geht die
Zivilisation unter; unbedingt geht sie unter. Es muß etwas Neues
kommen.

Nun, ich suche nun, wo in einer solchen Schrift auf das Neue hin-


gedeutet worden ist. Ja, ich finde es auf Seite 67, da stehen drei Zei-
len: «Nur eine Sinnesänderung der Welt, eine Willensänderung der
beteiligten Hauptmächte kann einen obersten Rat der europäischen
Vernunft entstehen lassen.»

Ja, Sie sehen, vor dieser Entscheidung stehen die Menschen. Sie


weisen darauf hin, nur wenn überall eine Sinnesänderung entsteht,
wenn etwas ganz Neues kommt, dann gibt es noch eine Rettung. Das
ganze Buch ist geschrieben zu dem Zwecke, um zu zeigen, daß es sonst
keine Rettung gibt. Es ist viel Richtiges daran. Die Wahrheit ist näm-
lich, daß es für die zusammenbrechende Zivilisation aus nichts weiter
heraus eine Rettung gibt als aus dem Geistesleben, das aus den wirk-
lichen geistigen Quellen geschöpft wird. Es gibt keine andere Rettung,
sonst geht eben die moderne Zivilisation, insofern sie von Europa aus
bis nach Amerika begründet worden ist, ihrem Untergange entgegen.
In dem, was verfault, muß gesehen werden die wichtigste Zeiterschei-
nung der Gegenwart. Und es hilft nichts, Kompromisse zu schließen
mit dem Verfaulenden, sondern es hilft allein, auf dasjenige zu sehen,
was auch über dem Grabe gedeihen kann, weil es eben stärker ist als
der Tod. Das ist das Geistesleben. Aber für das, was da notwendig
ist, haben solche Leute zunächst nur die ganz abstrakte Hindeutung:
Es muß eben eine allgemeine internationale Sinnesänderung entste-
hen. - Hören sie irgendwo etwas von wirklichem Aufblühen von gei-
stigem Leben, dann ist es «unbrauchbare Mystik». Dann kommen sie
und sagen: Ja, in solchen sinkenden Zeiten des Unterganges, da ma-
chen sich alle möglichen Okkultismen und Mystiken geltend, und da
muß man sich hüten davor.

Und so schaufeln an dem Grabe der heutigen Zivilisation am mei-


sten diejenigen, die sogar einsehen, daß dieses Schaufeln geschieht. Es
ist nicht anders möglich, zu diesen Dingen Stellung zu nehmen, als
indem man sie mit vollem Ernst einsieht, indem man sich mit vollem
Ernst wirklich versenkt in die Wahrheit, daß ein neues Geistesleben
notwendig ist, und daß dieses neue Geistesleben wirklich gesucht wer-
den muß, so daß endlich die Möglichkeit gefunden werde, innerhalb
des irdischen Lebens den Christus zu finden, ihn so zu finden, wie
er ist seit dem Mysterium von Golgatha. Denn er ist heruntergestie-
gen, um sich mit den Erdenverhältnissen zu verbinden.

Den stärksten Kampf gegen diese eigentlich christliche Wahrheit


führt heute zum Beispiel eine gewisse Sorte von Theologie, die gerade
dann sich aufbäumt, wenn man von dem kosmischen Christus spricht.

So daß immer wieder und wieder darauf aufmerksam gemacht wer-


den muß, daß auch schon in den Zeiten, in denen zum Beispiel Schröer
auf Goethe hingewiesen hat zur Wiederbelebung der Zivilisation,
schon dazumal das Buch von dem Basler Professor, dem Freunde
Nietzsches, erschienen ist über die Christlichkeit der neueren Theo-
logie - er meinte die christliche Theologie. Und Overbeck meinte
dazumal, daß gerade die Theologie das Unchristlichste ist, und suchte
das als Historiker der Theologie zu beweisen. Damals war also in
Basel die historisch-theologische Lehrkanzel mit einem Professor be-
setzt, der den Beweis führte: die Theologie ist unchristlich!

Die Menschheit hat in die Katastrophe hineintreiben müssen, weil


sie die einzelnen Rufe, die da waren, die allerdings noch sehr an Un-
klarheit litten, nicht aufgenommen hat. Heute hat die Menschheit
keine Zeit mehr, zu warten. Heute muß die Menschheit wissen, daß
solche Darstellungen wie die von Ruedorffer durchaus wahr sind, daß
es durchaus notwendig ist, einzusehen, wie durch die Fortsetzung der
alten Impulse alles zusammensinkt. Dann gibt es nur eines: sich an das-
jenige zu wenden, was auch aus Gräbern wachsen kann, nämlich das
Geistig-Lebendige.

Und das ist es, worauf immer wieder und wiederum aufmerksam


gemacht werden muß, gerade in unserem Zusammenhange.

ELFTER VORTRAG

Dornach, 24. Februar 1922

Der Einschnitt zwischen dem vierten und fünften nachatlantischen


Zeitraum, der in das 15. Jahrhundert hineinfällt und den ich als sol-
chen oft bezeichnet habe, hat wirklich viel mehr in der Entwickelung
der Menschheit zu bedeuten, als die äußere Geschichte auch heute
noch gewöhnlich verzeichnet. Man ist sich nicht bewußt, welch ein
gewaltiger Umschwung sich in aller Seelenverfassung der Menschen
damals abgespielt hat. Man kann sagen, in das Bewußtsein gerade der
besten Geister sind die Spuren dessen, was sich dazumal für die
Menschheit vollzogen hat, tief eingegraben. Sie sind es noch lange ge-
wesen und sind es noch heute. Daß sich so etwas Bedeutsames vollzie-
hen kann, ohne daß es zunächst äußerlich stark bemerkt wird, davon
liefert ja die Entstehung des Christentums selbst ein Beispiel.

Bedenken Sie nur, daß dieses Christentum, das im Laufe von fast


zwei Jahrtausenden so umgestaltend auf die zivilisierte Welt gewirkt
hat, auch für die bedeutendsten Geister der damals maßgebenden rö-
mischen Kultur, nach einem Jahrhundert nach dem Mysterium von
Golgatha eigentlich noch nicht berücksichtigt war. Wurde es doch
damals angesehen wie ein kleines unbedeutendes Ereignis drüben, an
den Grenzen des Reiches, in Asien. Und man darf sagen, ebensowenig
ist das, was um das erste Drittel des 15. Jahrhunderts herum sich ab-
gespielt hat für die zivilisierte Welt, bemerkt worden innerhalb des-
sen, was man äußerlich-dokumentarisch geschichtlich verzeichnet hat.
Aber es hat eben durchaus seine Spuren eingegraben in menschliches
Streben, in menschliches Ringen.

Wir haben bereits einiges davon auch in der letzten Zeit wiederum


verzeichnet, zum Beispiel die Art, wie es sich in der Dichtung
Calderons in dem Magus Cyprianus abgespielt, wie gerade in Spanien
dieser geistige Umschwung in der Menschheit aufgefaßt worden ist. Nun
aber können wir sehen, wie an den verschiedensten Stellen der
Menschheitsentwickelung, wenn auch die Sache nicht so gesagt wird,
wie man sie heute aus der Anthroposophie heraus sagen muß, doch

ein energischeres Empfinden dafür vorhanden ist, daß man gewisser-


maßen innerlich-seelisch sich klarwerden muß über diesen Umschwung,
der sich da vollzogen hat. Und auch darauf habe ich schon hingedeu-
tet, wie einer der Versuche, aus menschlichem Ringen heraus sich klar-
zuwerden über diesen Umschwung, der Goethesche «Faust» ist. Aber

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